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Ein Aussteiger warnt vor der Neonazi-Szene

Er wird in Steckbriefen als Freiwild bezeichnet, wird verleumdet und erhält Morddrohungen. Dennoch lässt sich Jörg Fischer-Aharon von seiner „Mission” nicht abbringen: Aufklärung über Rechtsextremismus zu leisten.

Am Donnerstag war er im Dortmunder Paul-Ehrlich-Berufskolleg zu Gast. Azubis, allesamt angehende Garten- und Landschaftsbauer, waren die Zuhörer. „Schon wieder einer, der über Nationalsozialismus reden will”, tuschelt einer. „Nee, geht um neue Nazis”, raunt ein anderer. Doch Fischer ist nicht „noch so einer”; Kein akademischer Experte, der das Thema aus Büchern kennt. Fischer war einer von ihnen: Neonazi, NPD-Aktivist, Propagandist.

Beamter zerrte 13-Jährigen in die Szene

Im Alter von 13 Jahren kam er über einen Mitarbeiter des Versorgungsamtes in Nürnberg in die Szene. Er bearbeitete den Bescheid des Jungen und überschüttete den Jungen noch in der Amtsstube mit NPD-Material. Er setzte ihm auch telefonisch zu. Und es gelang ihm, den bis dato nicht an Politik interessierten Schüler in den Dunstkreis der Partei zu ziehen. Der Einstieg war ein „unpolitischer” Stammtisch der örtlichen Kameradschaft. Eine ganz normale Kneipe, ganz „normale” Menschen - „Keiner mit Uniformen, die komische Lieder singen”, betont Fischer. „Sie ködern einen mit scheinbar unpolitischen Sachen”, warnt der Aussteiger die Azubis. „Das geht über Freizeit- und Sportangebote, Nachhilfe und vor allem Musik.”

Entfremdung: Keine Zeit für alte Freunde

Einmal in der Szene, werde man vereinnahmt. Termine und Angebote, manchmal an sechs Abenden pro Woche. Der alte Freundeskreis des Jungen schmolz weg - Zeit hat man nur noch für seine „neuen Freunde”. Kalkül der NPD. Die faschistische Ideologie durchdringt dann alle Lebensbereiche. Mit Beispielen aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit holt er die Berufsschüler immer wieder aus der Reserve. Alles Deutsche werde überhöht, auch sprachlich: Das Internet wird zum Weltnetz, die Homepage zur Heimatseite, der Webmaster zum Seitenwärter und ein Link zur Brücke. McDonald's kommt vom Speiseplanund ist US-imperialistisch, Döner eine Speise von „Untermenschen”. Die Ideologie der Ungleichheit ist das Bindeglied zwischen alten und neuen Nazis. Er glaubte die Parolen - die vom biologischen Überlebenskampf des deutschen Volkes oder dass „türkische Samenkanonen” die deutsche Rasse gefährdeten und Ausländer die Arbeitsplätze stehlen.

Umdenken erst, als Menschen starben

Erst die Anschläge von Hoyerswerda und Lichtenhagen sorgten nach neun Jahren in der Szene für ein Umdenken. „Als ich sah, dass aus dem Stammtisch-Gerede plötzlich Realität wurde und Menschen sterben.” Erst da hinterfragte Fischer die Ideologie, hörte sich auch kritische Stimmen an. Und noch ein Aspekt bewegte 1992 den damals 22-Jährigen: Die Verlogenheit der rechten Szene. „Ich war schwul, und ich war nicht der einzige.“ Viele Neonazis gingen privat in schwule Clubs, aber offiziell hetzten sie gegen Schwule. Fischer brach mit der Szene, zog sich zurück. „Ich brauchte Jahre, um meine Vergangenheit aufzuarbeiten.

Plädoyer für wehrhafte Demokratie

Seit 1996 steht der freiberufliche Journalist nun schon Schülern Rede und Antwort. Er wird von seinen früheren „Freunden“ bedroht und verfolgt. Dennoch spricht er von seiner Biografie und hält ein flammendes Plädoyer für die wehrhafte Demokratie: Schüler sollten sich nicht nur gegen Rechtsextremismus einzusetzen, sondern auch für eine starke demokratische und weltoffenes Land. „Was geht mich das an“, murmelt einer der angehenden Garten- und Landschaftsbauer. Sein Nebenmann nickt.

Das 100-Tage-Programm

Ungefragt gibt Fischer die Antwort mit einem Verweis auf das 100-Tage-Programm von Horst Mahler, wie sich der rechtsextreme Ideologe die neue Ordnung in Deutschland vorstellt: „Einen Führerschein gibt es erst nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Und Autos von Unter-25-Jährigen bekommen Hubraum- und PS-Beschränkungen. Und Anspruch auf einen Zweitwagen haben Familien erst ab dem fünften Kind.“ Raunen geht durch die Reihen. Den eigentlichen Schocker hat sich Fischer allerdings bis zum Schluss aufgehoben: „Wenn es nach Mahler geht, wird es nur noch drei Radio- und Fernsehprogramme geben. Einen für Hochkultur, einen für Volkskultur und einen für Wissenschaft und Technik. Dann gibt es jeden Tag nur noch Musikanten-Stadl und Wagner-Opern. Und vielleicht dazwischen etwas Landser und Störkraft.“ Fischer hat die Schüler gepackt. Und vielleicht ein Nachdenken erreicht.

 

Info: Tour gegen Rechts

Auf Einladung der Gewerkschaft IGBAU ist der Szene-Aussteiger Jörg Fischer-Aharon die ganze Woche in NRW unterwegs. Im Rahmen ihrer „Tour gegen Rechts” hat die Gewerkschaft Berufsschulbesuche in Herford, Bochum, Gelsenkirchen, Dortmund und Lübbecke organisiert.

Quelle: der Westen vom 13.02.09

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