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Schöne Grüße vom Straßenstrich

Das schöne Dortmund. Das historische Dortmund. Das blühende Dortmund. Postkartenmotive ohne Ende. Rosen am Fuße des Florianturms. Malerische Wasserschlösser. Hohensyburg. Westfalenhalle. Stadion. Die neuesten Ansichtskarten zeigen andere Seiten der Stadt: Prostituierte auf dem Straßenstrich. Heroinspritzen auf dem Kinderspielplatz. Ein Saufgelage im Park. Schöne Grüße aus dem Dortmunder Norden!

Ratsfraktionen, Oberbürgermeister, Dezernenten, Amtsleiter, Polizei – 200 Entscheidungsträger haben ungewöhnliche Post bekommen. Karten mit Schwarz-Weiß-Fotos, die die graue Wirklichkeit zeigen. Ein Motiv: Leicht bekleidete Damen, die sich auf dem Straßenstrich anbieten. Darüber in roten Lettern die Aufschrift: „Möchten Sie, dass Ihre Kinder Prostitution als Alltagserfahrung erleben?” Und darunter, noch fetter: „Wir auch nicht!” Der handschriftlich verfasste Text auf der Rückseite adressiert das Anliegen: „Bitte helfen Sie mit, dass die Kinder im kinderreichsten Stadtteil Dortmunds kindgerecht aufwachsen.”

Absender sind die Nordstadteltern, eine Initiative, die sich in den Schulen des Stadtbezirks formiert hat. Ein Netzwerk, das nach dem Schneeballprinzip wächst. Gegründet von Eltern, die ein lebenswertes Wohnumfeld wollen. Vor allem für ihre Kinder.

„Grob geschätzt, repräsentieren wir an die 5000 Eltern”, sagt Kirsten Gilakis. Sie vertritt die Kampagne nach außen. Die 41-Jährige, alleinerziehende Mutter zweier Töchter, ist Schulpflegschaftsvorsitzende der Grundschule Kleine Kielstraße. Ein Kind der Nordstadt. „Ich habe hier noch gespielt”, sagt sie. „Heute kann man die Schleswiger Straße nicht mal mehr entlang gehen. Kinder schon gar nicht. Da stehen die ganzen Bulgarinnen und die Alkoholiker.”

Solche Bilder würden von offizieller Seite ausgeblendet. Also haben die Nordstadteltern ihren Alltag fotografiert und gedruckt. Aus eigener Kraft wurde die Aktion finanziert. „Darauf sind wir stolz”, sagt Kirsten Gilakis. Ein kulturübergreifender Kraftakt: „Jeder hat etwas gegeben, und wenn es 50 Cent waren.” Auffallend: das große Engagement von Migranten. „Viele Flüchtlingseltern haben sich beteiligt. Die Sprache der Kinder ist eben überall gleich.”

3000 Postkarten sind zunächst in Umlauf. Neben der Strich-Szene gibt es zwei weitere Motive. Eines zeigt ein Drogenbesteck auf einer Wiese. Dazu die Frage: „Möchten Sie, dass Ihre Kinder auf mit Spritzen verunreinigten Spielplätzen spielen?” Ansicht Nummer drei: ein Zechgelage am Nordmarkt. Vier Personen am, 13 Flaschen Bier auf dem Tisch. „Möchten Sie, dass Ihre Kinder auf dem Schulweg Alkoholkonsum als alltäglich erleben?” – „Wir auch nicht!”

Von Stadt und Politik fühlen sich die Nordstadteltern verlassen. Aber sie kämpfen. „Die mögen die Nordstadt aufgeben”, sagt Kirsten Gilakis. „Wir nicht!”

Sie haben ihr Pulver noch lange nicht verschossen. „Wir haben einen langen Atem”, so Kirsten Gilakis. Und ein viertes drastisches Postkartenmotiv in Hinterhand. Es soll bald gedruckt werden. Die Aktion kratze am Image der Stadt, warnt eine Reiseexpertin. „Touristisch ist das eine Katastrophe”, meint Bruni Thiel, stellvertretende Geschäftsführerin von Dortmund Tourismus.

„Aber eines vorweg: Die Initiative der Eltern kann ich absolut nachvollziehen”, bricht Thiel eine Lanze für die Mission. Für Dortmund allerdings sei die Verbreitung solcher Ansichtskarten „schädlich”. Lange habe es gedauert, bis sich „das saubere, sichere Bild der Stadt draußen festgesetzt” habe. Und jetzt diese Ansichten. Wer die Stadt nicht kenne, speichere die Botschaft: „Da wird nur gespritzt und gesoffen” – bei der Auswahl von Reisezielen ein k.o.-Kriterium. „Wenn die Stadt erst wieder so einen Ruf kriegt...” Bruni Thiel hofft, „dass unsere Politiker jetzt ganz schnell handeln und alles tun, um solche Missstände zu beseitigen”.

Sie spricht den Nordstadteltern aus der Seele. Aber die glauben kaum noch an Politik und Verwaltung. Sie fühlen sich für öffentlichkeitswirksame Auftritte missbraucht. „Es ist immer das Gleiche”, sagt Kirsten Gilakis. „Erst kommen Polizei und Ordnungsamt mit großem Aufgebot. Und nach drei Monaten sind sie weg.”

Nachhaltige Lösungen – Fehlanzeige. „In Datteln gibt es ein Alkoholverbot. In Düsseldorf wird es gefordert. Und hier? Nichts.” Auch der „Angstecken-Katalog”, den Nordstadt-Kinder 2008 dem OB überreichten, habe nichts bewirkt. „Ein Alkoholverbot für Spielplätze, Schulen, Kinder- und Jugendtreffs sollte doch bei der letzten Ratssitzung diskutiert werden”, so Kirsten Gilakis. „Aber sie haben den Punkt gestrichen.” Für die zweifache Mutter ein Indiz, „dass sie das unter den Tisch fallen lassen wollen. Aber da machen wir nicht mit.”

Quelle: WR vom 02.07.09

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