Benutzerspezifische Werkzeuge
Sie sind hier: Startseite Soziale Lage / Sozialpolitik Dortmund speziell Soziale Entwicklung Schicksale, die kaum einen berühren

Schicksale, die kaum einen berühren

Sie ist fünf, höchstes sechs Jahre alt und trägt einen rosa Anorak. Und ein rosa Kissen in der Hand, damit es gleich etwas bequemer ist auf dem Straßenpflaster. Jetzt bettelt die kleine Sinti. Wie jeden Tag. Stundenlang im Regen auf dem Westenhellweg.

Einer, der sich nicht an den Anblick gewöhnen will, ist empört. "Warum interessiert das keinen? Warum tut die Polizei nichts oder das Jugendamt?", fragt Berry Doddemma. Antwort: Betteln ist nicht verboten. Doddemma besitzt ein Tanzstudio auf dem Westenhellweg. Jeden Morgen auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz sieht er die Kinder, die statt zu spielen oder in die Schule zu gehen, auf dem Boden sitzen und betteln. Mal in Begleitung eines Erwachsenen. Mal alleine. Mal ein Mädchen. Mal ein Junge. Schließlich platzt ihm der Kragen. Je länger er darüber nachdenkt, desto klarer wird ihm, dass er das nicht länger hinnehmen will. ,,Das ist doch nicht normal. Wir reden hier von Kindern, die betteln. Und niemanden stört das."

Keiner übernimmt Verantwortung

Der 55-Jährige greift zum Telefon. Er schildert Stadt und Polizei, was er sieht: Das Mädchen im rosa Anorak in Begleitung einer Frau. Das Mädchen mit den großen Kulleraugen, wie es einen weißen Plastikbehälter vor seinem Körper hält. Manchmal schmeißt jemand eine Münze hinein, manchmal kauft jemand einen Hamburger, den das Kind essen soll. Das alles erzählt Doddemma. Doch er stößt auf Desinteresse. "Keiner fühlt sich verantwortlich. Die Stadt nicht. Die Polizei nicht. Die Politik nicht." Der Niederländer sagt: "Das ist ein Skandal." Wenn er einen Flyer auf dem Westenhellweg verteile, sei das Ordnungsamt eine halbe Stunde später zu Stelle und wolle die Erlaubnis sehen. Er, der seinen Eleven untersagt, in billigen, von Kinderhand in China hergestellten Kostümen zu tanzen, möchte den Kindern helfen.

Doch Jugend- und Ordnungsamt haben keine Strategie entwickelt, wie sie mit diesem Phänomen umgehen sollen. Auch die Polizei gibt sich verhalten. Nach Angaben der Stadt ist stilles Betteln grundsätzlich erlaubt. Aggressives Betteln wurde 2008 in Dortmund in 261 Fällen angezeigt. Auf die Frage, ob Kinder betteln dürfen, teilt das Presseamt mit: "Kindeswohlgefährdung ist individuell zu prüfen. (z.B. Säugling mit Mutter bei Minusgraden). Ob die Kinder gezielt(...)eingesetzt werden (Mitleidsfaktor bringt Geld und je mehr ein Kind erbettelt, desto häufiger wird es eingesetzt), darüber liegen weder Stadt noch Polizei Erkenntnisse vor." Auf die Frage, ob man die Herkunft der Kinder überprüft, die offenkundig Sinti und Roma sind und legal aus Rumänien oder Ungarn einreisen können, antwortet das Presseamt: "Bei aggressivem Betteln wird immer die Identität festgestellt(...)Es kommt aber vor, dass sie sich vor Abschluss der Klärung ihrer Identität der weiteren Betreuung entziehen." Die Schulpflicht zu erwirken - ein weiteres Problem. "Sind die Familien hier nicht greifbar, ist die Durchsetzung natürlich schwierig."

Fazit: Immer noch betteln die Kinder auf dem Westenhellweg. Immer noch interessiert es niemanden.

Quelle: WR vom 8.2.09

 

Richter rüffelt Behörden - jetzt hilft City Ring

Die Gleichgültigkeit gegenüber bettelnden Kindern auf dem Westenhellweg empört. Wie berichtet, schreiten Polizei und Jugendamt meistens nicht ein. Denn: Betteln ist nicht verboten.

Damit verletzen die Behörden ihre Dienstpflicht, sagt Richter Heiner Schwab, "die Tatbestände Körperverletzung und Kindeswohlgefährdung sind erfüllt". Nicht länger zusehen will der Cityring. Er will den Kindern helfen. Wie berichtet, hatte sich der Dortmunder Geschäftsmann Berry Doddema öffentlich darüber geäußert, dass Sinti- und Romakinder in der Innenstadt betteln und niemand daran Anstoß nimmt, "dass hier Kinder stundenlang über Wochen auf der Straße sitzen, statt in die Schule zu gehen." Doddema hatte erklärt, mehrfach Jugendamt und die Polizei ins Bild gesetzt zu haben. Ohne Erfolg.

Das Verhalten von Jugendamt und Polizei kommentierte Heiner Schwab, der in Unna und Dortmund tätige und seit Oktober pensionierte Richter, so: "Die Untätigkeit beider Behörden ist mit ihren Dienstpflichten nicht vereinbar." Schwab beruft sich auf die §§ 171 und 223 des Strafgesetzbuches und die Kommentare zu §171. Diese nennen das Anleiten zum Betteln wie auch das Abhalten vom Schulbesuch ausdrücklich als Beispiele für die Verletzung der Fürsorgepflicht. "Das Setzen eines kleinen Kindes auf den zu dieser Jahreszeit sehr kalten Boden - und das über Stunden - erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung", sagt der Jurist. Selbstverständlich seien Polizeibeamte gehalten, derartige Straftaten zu verhindern und zu verfolgen. Eine Vertreibung der Bettelnden von einem Platz zum anderen oder von einer Stadt zur anderen genügt seines Erachtens nicht. Was das Verhalten des Jugendamtes betrifft, sagt er: "Bei Gefährdung des Kindeswohles muss die Behörde zwingend einschreiten."

Zum Wohle der Kinder will nun der Dortmunder City Ring, die Interessenvertretung heimischer Geschäftsleute, tätig werden. Dessen Vorstandsvorsitzender Axel Schröder empfindet die Bettelei nicht als lästig. Vielmehr sorgt er sich.

Axel Schröder: Das ist mein Anliegen

"Für mich ist das ein echtes Anliegen. Hier geht es um Kinder, die ein Recht auf ihre Kindheit haben." Daher wird er alle Mitglieder des City Rings im nächsten Rundbrief über das Problem ins Bild setzen. Zudem will er mit den zuständigen Behörden wie Polizei und Jugendamt in Kontakt treten.

Die Mitglieder des City Rings sollen sich laut Schröder melden, wenn sie bettelnde Kinder sehen. "Nur so können wir den Jungen und Mädchen helfen." Eine konkrete Kontaktperson, die Mittlerin zwischen Kindern und Behörden sein will, steht schon fest. Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und Vorsitzende des Arbeitskreises Unna (u.a. Aktion Kinderferien e.V.) Anneliese Schwab (02303/870057) stellt sich zur Verfügung.

Denen, die jetzt aktiv werden wollen, schwebt ein Modell nach belgischem Vorbild vor. In Brüssel gibt es Streetworker, die sich der Bettelkinder annehmen.

Quelle: WR vom 12.02.2009


Artikelaktionen