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Ein Jahr Hartz IV

Berichterstattung der Ruhr-Nachrichten: Ein Gespräch mit dem Leiter der Dortmunder Arbeitsagentur, die Meinung des DGB-Chefs aus der Region und mal wieder eine haarsträubende Geschichte darüber wie in Dortmund mit Hilfe suchenden Menschen umgegangen wird.

Zukunftsthema: Ausbildung

Über die Ergebnisse des scheidenden Jahres und die Herausforderungen für das nahende 2006 sprach RN-Redakteurin Bettina Kiwitt mit Werner Schickentanz, Chef der Agentur für Arbeit.

Als ich gerade die Agentur betreten habe, gab es im Eingangsbereich Warteschlangen. Die sollten doch der Vergangenheit angehören...

Schickentanz: - Jetzt gerade (Anmerk. der Red: 10.30 Uhr am Dienstag) ist scheinbar viel los. Die individuelle Bearbeitungszeit am Empfang ist aber so kurz, dass sich auch eine Schlange schnell wieder auflöst. Danach verteilen sich die Kunden auf drei räumlich getrennte Eingangszonen. Eine Gesamtwarte- und -bearbeitungszeit über eine Stunde hinaus ist die Ausnahme. Außerdem sollen die Kunden zwischen Empfang und Eingangszone einen Übersichtsbogen mit ihren beruflichen Daten und Besprechungswünschen ausfüllen, so dass die Zeit sinnvoll genutzt wird.

Die Sicherheitskräfte wirken auch nicht sehr einladend...

Schickentanz: - Vergessen Sie nicht: Wir haben zwei Firmen in diesem Haus. Die Situation der ARGE unterscheidet sich von der Agentur. Wenn kein Geld gezahlt wird, trifft das bei den Betroffenen nicht immer auf Wohlgefallen. Auch die Wartesituation dort ist eine andere.

Wer heute in das Gebäude an der Steinstraße kommt, hat das Gefühl, er betritt ein Zwei-Klassen-System. Die Agentur auf der einen Seite, die ARGE auf der anderen.

Schickentanz: - Wir könnten uns baulich auch eine andere Möglichkeit vorstellen. Am Anfang hatten wir auch andere Vorstellungen: Wir wollten weiterhin unter einem Dach und mit weiterhin gemeinsamen Organisationseinheiten operieren. Diese Vorstellung hat sich im Laufe der Zeit geändert. Heute wollen wir klar unterscheiden, was machen die einen, was machen die anderen.

Die Kunden der ARGE sind oft sehr unzufrieden.

Schickentanz: - Dazu müssen Sie Herrn Neukirchen-Füsers (Anmerk.: Geschäftsführer der JobCenter ARGE) befragen. Klar ist aber, wir sind in der ARGE immer noch in der Aufbauphase, aber wir haben gemeinsam schon jetzt mehr erreicht als früher Sozialamt und Arbeitsagentur getrennt. Ich finde, das ist trotz aller Schwierigkeiten ein toller Erfolg.

Was haben Sie als Chef der Agentur für Arbeit, die gemeinsam mit der Stadt Dortmund Träger der JobCenter ARGE ist, für Einflussmöglichkeiten?

Schickentanz: - Für das operative Geschäft sind wir nicht zuständig. In Trägerverantwortung ist vor allem der Haushalt, Personal- und Sachausgaben und das Arbeitsmarktprogramm.

Arbeitgeber schimpfen immer wieder darüber, dass ihnen von der Agentur nicht die passgenauen Mitarbeiter zugewiesen werden. Was sagen Sie dazu?

Schickentanz: - Um dieser Kritik Rechnung zu tragen, haben wir seit kurzem 30 Vermittler nur mit arbeitgeberbezogenen Dienstleistungen beauftragt. Früher hat jeder Arbeitsvermittler sowohl Bewerber als auch Arbeitgeber betreut. Dabei sind beide Seiten mit ihren unterschiedlichen Belangen nicht immer zu ihrem Recht gekommen. Die jetzt ausschließlich für Arbeitgeber zur Verfügung stehenden Vermittler werden durch enge Absprachen für eine hohe Treffgenauigkeit und Schnelligkeit bei Vermittlungsvorschlägen sorgen. Das schließt nicht aus, dass es auch bei mehr als 50 000 Arbeitsuchenden im Einzelfall schwierig ist, spezielle Anforderungen eines Arbeitsplatzes zu erfüllen. Die Frage ist also, wo mache ich Abstriche. Als Arbeitgeber muss ich vielleicht auch mal bereit sein, in Schulung zu investieren. Wenn ein Bewerber im Großen und Ganzen passt, aber etwa die erforderlichen Spezialkenntnisse fehlen. Mit solchen und ähnlichen Einzelsituationen müssen sowohl Arbeitgeber als auch Bewerber möglichst flexibel umgehen.

Was wird aus ihrer Sicht im nächsten Jahr die größte Herausforderung für die Agentur sein?

Schickentanz: - Das ist für mich eindeutig die bessere Integration von jungen Menschen in Ausbildung und Arbeit.

Die Kammern sagen doch immer, alles ist schön, wir bilden über Bedarf aus.

Schickentanz: - Die Kammern betreuen größere Regionen als wir, und dafür geben sie ihre Zahlen an. Die sind deshalb leider mit unseren Zahlen nicht vergleichbar.

Wie sehen Ihre Zahlen aus?

Schickentanz: - Das Bundesinstitut für Berufsbildung ist die Stelle, die alle Kammerzahlen nach Agenturbezirken aufbereitet. Dort ist gerade ein Rückgang der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge für 2005 von 4,3 % für Dortmund gemeldet worden. Das bestätigt unsere bisherige Einschätzung. Da gibt es nichts zu beschönigen. Und das Problem wird auch in den nächsten Jahren bestehen bleiben.

Was kann man tun?

Schickentanz: - Wir müssen neue kreative Möglichkeiten nutzen, um die jungen Leute zu integrieren.

Das ist leicht gesagt. Wie könnten denn diese Möglichkeiten aussehen?

Schickentanz: - Zunächst einmal müssen sich alle Beteiligten, also die Berufskollegs, die Kammern, die Verbände und die Agentur erneut zusammensetzen. Hier sind bereits erste Schritte gemacht. Wir müssen erreichen, dass die jungen Menschen, die keinen traditionellen Ausbildungsplatz finden, ohne Zeitverlust, ohne die üblichen Ehrenrunden an den Berufskollegs einen Ausbildungsabschluss erreichen. Es muss gemeinsam mit den Jugendlichen viel früher abgeklärt werden, welche Alternativen es gibt.

Das Problem besteht doch seit Jahren. Warum hat man nicht schon früher was getan?

Schickentanz - : Ich glaube, alle Akteure haben zu sehr gehofft, es würde bald eine Zeit des Schülermangels eintreten, und das Problem würde sich dann von selbst erledigen. Eine solche Situation wird in Dortmund jedoch frühestens am Ende des nächsten Jahrzehnts eintreten. Hilfreich für alle wäre natürlich ein wirtschaftlicher Aufschwung, der die Betriebe auch wieder zu mehr Ausbildung motivieren könnte. Ich bin aber davon überzeugt, wir kommen zur nachhaltigen Lösung des Problems nicht umhin, über eine sinnvolle Neuverteilung und veränderte Verzahnung von betrieblichen und schulischen Kapazitäten in der Dualen Ausbildung nachzudenken. Dazu kann ich aber nur Anregungen geben, die Entscheidungen müssen die unmittelbar Beteiligten treffen. Und ein weiterer Punkt soll nicht unerwähnt bleiben. Junge Leute mit Fachhochschulreife und Abitur sollten verstärkt studieren. Sie entlasten dadurch die betriebliche Ausbildung und haben zudem in der Regel bessere Berufschancen.

Letztes Thema: die Fußball-Weltmeisterschaft. Was versprechen Sie sich davon?

Schickentanz: - Einiges. Die WM kann einen spürbaren Wachstumsimpuls geben, selbst wenn meistens nur befristet beschäftigt wird. Schon jetzt suchen Arbeitgeber über uns Mitarbeiter, z.B. Sicherheitsunternehmen. Und viele werden sich erst noch melden.

Aber nach der WM werden die Leute wieder entlassen...

Schickentanz: - Zunächst einmal haben sie einen Job gefunden, wir haben weniger Kosten und der Finanzminister und die Sozialkassen mehr Einnahmen. Das rechnet sich. Mancher Arbeitgeber wird außerdem einem Mitarbeiter, der sich bewährt hat, auch weiter eine Chance geben. Davon bin ich überzeugt.


DGB: Unsere Kritik wurde von der Realität übertroffen

Nach der Hartz-Studie stehen sie jetzt wieder in der Kritik, die Personalservice-Agenturen (PSA). Doch dass das Instrument nichts taugt, ist in Dortmund eigentlich keine neue Erkenntnis. Bereits vor einem halben Jahr hatte Werner Schickentanz, Chef der Agentur für Arbeit, gegenüber den Ruhr Nachrichten geäußert, dass "die PSA hier vor Ort die Erwartungen nicht erfüllen konnten".

Mit vielen Vorschusslorbeeren waren die PSA im April 2003 gestartet. Arbeitslose sollten über diese Agenturen einen befristeten Zeitarbeitsvertrag erhalten und damit zu guter letzt in einem festen Arbeitsverhältnis unterkommen. Doch gerade dieser "Klebeeffekt" sei nicht zustande gekommen, kritisierte Schickentanz.

Und nicht nur das, es kam noch schlimmer. Bereits im Februar 2004 meldete der Personaldienstleister Maatwerk Insolvenz an. Allein 350 seiner Kunden in Dortmund waren betroffen, die meisten von ihnen fanden sich erneut in der Arbeitslosigkeit wieder.

Die Ich-AGs sind für Schickentanz hingegen besser als ihr Ruf. Damit könne man im Vergleich zur PSA mit verhältnismäßig geringen Mitteln Menschen dauerhaft aus dem Leistungsbezug heraushalten. Rund 20 % der Ich-AGler würden sich im Schnitt zwar erneut in der Arbeitslosigkeit wiederfinden, doch selbst wenn das Verhältnis 50:50 wäre, würden sich die Ich-AGs noch lohnen. Wie sich die aktuellen Zahlen bei den PSA und den Ich-AGs darstellen, war gestern leider bei der Agentur nicht in Erfahrung zu bringen: Das Computersystem war mal wieder abgestürzt.

Eberhard Weber, Vorsitzender des DGB im Östlichen Ruhrgebiet und Vorsitzender der Verwaltungsausschüsse der Arbeitsagenturen Dortmund und Hamm, füllt sich durch die jüngste Hartz-Studie bestätigt: "Unsere zwar geharnischte, wenngleich differenzierte Kritik an der so genannten Arbeitsmarktreform hat sich bestätigt, die Realität hat sie zum Teil sogar übertroffen", so sein Resümee nach einem Jahr.

Praktisch seien alle mit beachtlichem Finanz- und Medienaufwand propagierten arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen in den Sand gesetzt worden. "Die Personal-Service-Agenturen, Herzstück der Hartz-Reform, floppten schon nach wenigen Wochen", so Weber. Keines der neuen Arbeitsmarktinstrumente habe die vom ehemaligen Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement vorgegebenen quantitativen Ziele erreicht. Eine Ausnahme gäbe es, die Übernahme von "Eigenverantwortung": Viele Arbeitslose hätten erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, obwohl ihre Chancen, auf dem Arbeitsmarkt vermittelt zu werden, sich keinesfalls verbessert hätten.

"Eine kritische Standortbestimmung der aktuellen Arbeitsmarktpolitik ist unumgänglich, um Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Ein "Weiter so' darf es nicht geben," erklärt Weber. Auch über die Organisationsstrukturen der Jobcenter, die Langzeitarbeitslose zu begleiten hätten, sei neu nachzudenken. Der immer noch gepflegte Zentralismus der Bundesagentur führe ebenso wie die oftmals sehr eng geführten Überlegungen der Kommunen nicht zum gewünschten Erfolg. "Im Mittelpunkt sollte der Arbeitslose selbst stehen, nicht die Eitelkeit der jeweiligen Behörde." - kiwi


"Verzwickter Fall" landete sogar bei Obdachlosenhilfe

Mit 22 Jahren entschloss sich die junge Mutter, eine Ausbildung zu beginnen. Eine gute Entscheidung, die sie aber fast in den Ruin getrieben hätte.

Jaqueline Savic hatte keine Lust mehr, sich mit Aushilfsjobs und Hartz IV über Wasser zu halten. "Am 1. August begann ich eine Lehre als Bäckerei-Fachverkäuferin in Unna", erzählt die junge Frau aus Husen. Vom Lehrgeld (gut 300 Euro) kann die allein Erziehende nicht leben " schon die Wohnung, in der sie mit Sohn Julian-Maurice (4) lebt, kostet 430 Euro im Monat. In die Haushaltskasse wandern noch 154 Euro Kindergeld und 127 Euro Unterhalt. "Zum leben viel zu wenig, allein die Fahrten zur Arbeit und zur Berufsschule kosten monatlich rund 100 Euro." Früher bezog sie 345 Euro ALG II, und die Miete zahlte das Amt.

Immer neue Anträge

Anfang August suchte die 22-Jährige Hilfe bei der Arbeitsagentur. "Doch mir wusste keiner zu helfen, ich bin einfach durch das Raster gefallen. Immer wieder habe ich neue Anträge ausgefüllt, mindestens acht Mal war ich da. Inzwischen drohte schon der Rausschmiss aus der Wohnung. Zuletzt hat man mich dann zur Obdachlosenhilfe geschickt", erzählt Jaqueline.

Dort bekam sie einen Nervenzusammenbruch. "Ich habe total geweint, weil ich fertig war." Der Mitarbeiter der Stadt versprach Hilfe: "Bitte diese junge Frau, die inzwischen schon zum Kaiserhain und zur Luisenstraße geschickt wurde und wo sonst nicht, nicht mehr unnötig rumschicken", schrieb er in einer Mail an die zuständigen Sachbearbeiter und erklärte: "Im Rahmen des SGB II hat sie einen ergänzenden Anspruch, um ihren nicht ausbildungsgeprägten Bedarf zu decken."

Ganz so einfach scheint es nicht zu sein. "Das ist ein ganz verzwickter Fall", räumt Job Center ARGE-Sprecher Markus Schulte ein. Den Akten zufolge habe Jaqueline Savic am 15. Oktober erstmals einen Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) gestellt. Der wurde abgelehnt " das Einkommen der Eltern sei zu hoch. Dann musste ein ALG II-Antrag her. Obwohl sie auf ALG II gar keinen Anspruch hat. "Das ist nötig, um den Mehrbedarf zu ermitteln", erklärt Schulte.

Jetzt ist offenbar alles auf dem richtigen Weg: Beihilfe, Mietzuschuss, Fahrtkosten. Bald soll das erste Geld fließen. "Wir werden das sogar rückwirkend zum 1. August anweisen", versprach der ARGE-Sprecher. In ihrer Wohnung kann die junge Mutter ebenfalls bleiben " das Sozialamt will einmalig die Mietschulden zahlen. - Andreas Wegener

Quelle: Ruhr-Nachrichten vom 28.12.05



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