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Die geplante Regelsatzverordnung: Das sozialkulturelle Existenzminimum in der Abwärtsspirale

Aufruf von WissenschaftlerInnen zum von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf für eine neue Regelsatzverordnung als Teil des neuen Sozialhilferechts (Sozialgesetzbuch XII)

Frankfurter Rundschau vom 05.03.04

AUFRUF von WISSENSCHAFTLERINNEN und WISSENSCHAFTLERN

Das sozialkulturelle Existenzminimum in der Abwärtsspirale - Die geplante Regelsatzverordnung beschädigt einen Eckwert des deutschen Sozialstaats

Nahezu unbeachtet von Medien und Öffentlichkeit wird derzeit eine Weichenstellung zur Neubestimmung des sozialkulturellen Existenzminimums vorgenommen. Bis Anfang April 2004 soll der Bundesrat einem erst Mitte Januar von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf für eine Verordnung zustimmen, mit der die Regelsätze als Teil des neuen Sozialhilferechts (Sozialgesetzbuch XII) für die Zukunft festgeschrieben werden.

Tritt der vorliegende Entwurf in Kraft, droht das Existenzminimum auf Dauer auf einem Niveau festgeschrieben zu werden, das weitreichende Folgen nicht nur für das deutsche Sozialleistungs- und Steuersystem sondern auch für die Gesamtheit der Lebensbedingungen in der Bundesrepublik haben wird.

Wie dem Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu entnehmen ist, hat im letzten Jahrzehnt vor dem Hintergrund einer Auseinanderentwicklung der Einkommen und Vermögen das Ausmaß der Einkommensarmut in der Bundesrepublik zugenommen. Durch das vorgesehene Bemessungssystem wird einer weiteren Verschärfung der Armutsproblematik keine wirksame Barriere entgegen gesetzt.

Die sog. Regelsätze bestimmen zusammen mit den Unterkunftskosten und etwaigen Mehrbedarfszuschlägen das Leistungsniveau in der Sozialhilfe. Grundlegende Bedeutung für das deutsche Sozialleistungs- und Steuersystem haben die Regelsätze dadurch gewonnen, dass das in ihnen betragsmäßig konkretisierte Existenzminimum zunächst vom Bundesverfassungsgericht und dann vom Gesetzgeber auch zur Festsetzung des Grundfreibetrags im Einkommens- und Lohnsteuerrecht sowie für Unterhaltsrecht und Pfändungsfreigrenzen herangezogen worden ist. Von daher ist das Regelsatzsystem heute für die Lebenslage aller Bürger - und nicht nur für die Sozialhilfeempfänger - von Bedeutung. Es bildet einen Eckwert des bundesdeutschen Sozialstaats.

Das Sozialhilfeniveau zog bislang dem Niveau der verfügbaren Haushaltseinkommen in der Bundesrepublik eine Untergrenze. Dabei können Haushalte zu geringe Verdienste sowie auch fehlende oder unzureichende Sozialleistungen durch ergänzende Sozialhilfe aufstocken. Insofern bestimmte die Sozialhilfe zugleich die Basis, auf der die deutsche Lohn- und Gehaltspyramide stand.

Ab Anfang 2005 werden nun alle Erwerbsfähigen - gleichgültig ob sie erwerbstätig oder arbeitslos sind - mit ihren Angehörigen auf die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende des SGB II verwiesen, wenn sie einen materiellen Hilfebedarf geltend machen. Während in der Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) künftig nur ein begrenzter Kreis von Leistungsempfängern verbleibt, können Langzeitarbeitslose und Niedrigverdiener als erwerbsfähige Personen künftig nur noch Ansprüche auf die neue Grundsicherung des SGB II erheben, d.h. Arbeitslosengeld II oder als Angehörige das sogenannte Sozialgeld beziehen.

Dabei setzen die Regelungen des SGB II den Grundsicherungsbedarf niedrig an, um diese Leistung mit einem Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu versehen. Die Gesamtheit der Regelungen des SGB II soll den Weg für den Ausbau eines Niedriglohnsektors ebnen; eine Vermittlung in Arbeit soll "um jeden Preis" möglich werden. Mit der Ausdifferenzierung der Verdienste nach unten soll zugleich das gesamte Lohn- und Gehaltsgefüge nach unten gedrückt werden. Dies setzt voraus, dass das Arbeitslosengeld II als neuer unterster Sockel so niedrig angesetzt wird, dass dieser Prozess nicht behindert wird.

Das SGB II bietet somit eine "Grundsicherung", die vorrangig keine Sicherungs-, sondern eine negative Anreizfunktion zu erfüllen hat. Dagegen sind die Regelsätze der Sozialhilfe nach dem SGB XII vorrangig durch den verfassungsrechtlichen Auftrag geprägt, die Würde des Menschen durch einen Zugang zu einem bedarfsdeckenden Existenzminimum zu gewährleisten. Hier dienen die Regelsätze also dazu, eine Grenze nach unten zu ziehen ("Sockelung") und die sozialstaatliche Schutz- und Sicherungsaufgabe zu erfüllen. Gleichzeitig bilden sie jedoch auch das Bezugssystem für die Festlegung des Leistungsniveaus in der neuen "Grundsicherung für Arbeitsuchende" gemäß SGB II. Diese widersprüchliche Aufgabenstellung prägt den aktuellen Verordnungsentwurf.

Tatsächlich sind in dem Ende 2003 verabschiedeten SGB II die Beträge für das neue Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld vorab festgeschrieben worden. Die eigentlich hierfür als Richtgröße dienenden Sozialhilferegelsätze sollen nunmehr nachträglich auf dem Verordnungswege bestimmt werden. Der Eindruck entsteht, dass mit der Verordnung nur noch nachträglich legitimiert werden soll, was bereits vorab im SGB II unter dem Diktat der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie der leeren Kassen vorgegeben wurde.

Auch der Inhalt der geplanten Verordnung gibt Anlass zu Kritik, denn die vorgesehene Vorgehensweise genügt nicht den Anforderungen eines transparenten, nachvollziehbaren und in sich konsistenten Bemessungsverfahrens:

  • Die Verordnung sieht die Bemessung des notwendigen Lebensbedarfs in Form von Regelsätzen vor, die auf der Grundlage tatsächlicher Verbrauchsausgaben von Haushaltsgruppen im unteren Einkommensbereich festgelegt werden. Dabei muss der Zirkelschluss ausgeschlossen sein, dass die tatsächlichen Verbrauchsausgaben von sozialhilfeberechtigten Haushalten für die Bestimmung des notwendigen Bedarfs herangezogen werden. Um dies zu gewährleisten, reicht es jedoch nicht aus, dass - wie vorgesehen - nur die Sozialhilfeempfänger in der betrachteten Haushaltsgruppe unberücksichtigt bleiben. Notwendig wäre es, auch alle Bezieher von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende sowie für Ältere und Erwerbsgeminderte herauszunehmen. Unberücksichtigt bleiben müssten auch die Personen, die über Sozialhilfe- oder Grundsicherungsansprüche verfügen, diese jedoch nicht geltend machen (die sogenannte Dunkelziffer der Armut).
  • Indem bei der Bemessung der Regelsätze allein auf untere Haushaltseinkommen Bezug genommen wird, wird zugleich in Kauf genommen, dass bei der absehbaren Abkoppelung des unteren Einkommensbereichs von der allgemeinen Einkommensentwicklung (Niedriglöhne, Renten usf.) auch das Existenzminimum hinter dieser Entwicklung immer weiter zurück bleibt.
  • Für die Regelsätze werden statistische Angaben auf Basis der jeweils letzten verfügbaren Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) herangezogen. Da die EVS nur alle 5 Jahre erhoben wird, müssen diese Daten zunächst erst einmal aktualisiert werden. Dabei bleiben zwischenzeitlich entstandene zusätzliche Aufwendungen und Belastungen aber unberücksichtigt (z.B. Zuzahlungen in der Krankenversicherung).
  • Auch die für den Zeitraum bis zur neuen EVS vorgesehene Anpassung der Regelsätze an die Entwicklung des aktuellen Rentenwerts wird zu einem weiteren Hinterherhinken der Regelsätze hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung führen. Ist doch geplant, im Zuge der demographischen Entwicklung das Rentenniveau durch eine verminderte Rentenanpassung weiter abzusenken. Dieser Mechanismus wird so auf die Sozialhilfe übertragen.
  • Nicht hinreichend begründete Vorgehensweisen kennzeichnen auch die Festsetzung von Abschlägen, mit denen aus den tatsächlichen Ausgaben unterer Haushaltsgruppen die regelsatzrelevanten Ausgaben im Sinne des notwendigen Lebensbedarfs abgeleitet werden. Auch für die vorgesehene Verringerung der Alterstufen ist keine plausible Begründung gegeben worden.

Hinzu kommt: Im neuen Sozialhilfegesetz ist den Ländern die Wahlmöglichkeit eingeräumt worden, bei der Festsetzung der Regelsätze bundeseinheitliche oder regionale EVS-Auswertungen zugrunde zu legen. Dadurch wird eine Bemessung nach fiskalischen Gesichtspunkten durch die Auswahl der jeweils niedrigeren Bemessungsgrundlage ermöglicht.

Schließlich wird auch das sogenannte Abstandsgebots beibehalten, wonach das Sozialhilfeniveau durch das verfügbare Haushaltseinkommen eines Arbeitnehmerhaushalts mit einem Vollzeitverdiener unterer Lohn- und Gehaltsgruppen nach oben begrenzt wird. Indem bei diesem Vergleich ein Fünf-Personen-Haushalt zugrunde gelegt wird, der in der Bevölkerung und auch unter den Sozialhilfeempfängern praktisch kaum vorkommt, und der einen besonders hohen Bedarf aufweist, wird das Sozialhilfenniveau für alle Haushaltstypen auf einem unvertretbar niedrigen Niveau gehalten.

Alle diese Elemente tragen dazu bei, die Festsetzung und Fortschreibung der Regelsätze nach oben zu begrenzen. Insgesamt zielt die Regelung offenkundig darauf ab, das Niveau der Sozialhilfe abzusenken, um die Anreizfunktion zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen. Der beschäftigungspolitische Sinn einer solchen Politik ist bei 6,7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen nicht zu erkennen. Sozialpolitisch ist diese Regelung mit dem Sozialstaatsgebot nicht zu vereinbaren. Schon in den 90er Jahren sind die Regelsätze hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurück geblieben. Diese Entwicklung droht sich weiter zu verschärfen, wobei durch das neue SGB II der Kreis derjenigen, die auf dieses Leistungsniveau verwiesen werden, stark erweitert worden ist. Die Sozialhilfe ebenso wie die übrigen Grundsicherungsleistungen werden immer weniger in der Lage sein, Einkommensarmut zu vermeiden.

Als Folge des beschleunigten Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft und einer Zunahme sozialökonomischer Existenzrisiken wächst das Risiko in der Bevölkerung, zumindest zeitweilig von Sozialhilfe- bzw. Grundsicherungsleistungen leben zu müssen. Soll die verfassungsrechtlich gebotene sozialstaatliche Schutz- und Sicherungsfunktion erhalten werden, muss vor allem das unterste Leistungsnetz befestigt werden. Dieses wird durch die vorgelegte Verordnung jedoch gerade nicht geleistet. Diese Sicherungsfunktion sollte jedoch wegen ihrer überragenden Bedeutung Priorität vor anderen sozialpolitischen Aufgaben haben.

Wegen der hohen verfassungsrechtlichen und politischen Bedeutung für die Konkretisierung der Würde des Menschen (Art. 1 GG) und für die sozialstaatliche Verfassung unserer Gesellschaft sollte die Entscheidung über die Regelsätze überdies durch den Gesetzgeber, den Deutschen Bundestag, gefällt werden. Durch die Beratungen im Parlament sollte diese Entscheidung die ihr gebührende Resonanz in Politik und Öffentlichkeit finden. Die Entscheidung sollte unter Einbeziehung externen wissenschaftlichen Sachverstands nach einem im Vorhinein festgelegten, nachvollziehbaren und auf rationalen, überprüfbaren Kriterien basierenden Verfahren getroffen werden. Nur ein solches Bemessungssystem kann für die Sicherung des Existenzminimums - von der Steuer bis zur Sozialhilfe - die erforderliche feste Grundlage abgeben und damit verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügen.

Liste der Erstunterzeichner: Prof. Dr. Walter Hanesch, Fachhochschule Darmstadt Prof. Dr. Gerhard Baecker, Universität Duisburg Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster, Evangelishe Fachhochschule RWL Bochum Dr. Ute Klammer, WSI/Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Prof. Dr. Stephan Leibfried, Universität Bremen Prof. Dr. Utz Kramer, Fachhochschule Düsseldorf Dr. Bernd Schulte, Max Planck Institut f.a.u.i.Sozialrecht, München Prof. Dr. Wolfgang Schütte, Fachhochschule Hamburg Prof. Dr. Helga Spindler, Universität Essen Prof. Dr. Stolz-Willig, Fachhochschule Frankfurt a.M. Prof. Dr. Peter Trenk-Hinterberger Universität Siegen Prof. Dr. Achim Trube, Universität Siegen Prof. Dr. Margherita Zander, Fachhochschule Münster Prof. Dr. Ute Gerhard, Universität Frankfurt Prof. Dr. Günther Stahlmann, Fachhochschule Fulda Prof. Dr. Klaus Sieveking, Universität Bremen

Kontakt: Prof. Dr. Walter Hanesch, Professor für Sozialpolitik und Sozialverwaltung am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Darmstadt (whanesch@fh-darmstadt.de)

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