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Rollstuhlfahrer zum Spargelstechen

Der alltägliche Irrsinn: Was einem Schwerbehinderten an einem Mittwoch in einem Brandenburger Jobcenter widerfuhr.

Sonia Goldstein aus Kalifornien bekam kürzlich Post vom US-Marineinfanteriekorps. Ihr wurde mitgeteilt, das Militär könne ihre einzigartigen Sprachkenntnisse gut gebrauchen. Der Dienst bei den Marines werde sie aber an ihre körperlichen und geistigen Grenzen bringen. Frau Goldstein las den Brief und lachte. Erstens, weil sie schon 78 ist. Zweitens, weil sich ihre einzigartigen Sprachkenntnisse auf Englisch beschränken. Drittens, weil sie ihre körperlichen Grenzen längst kennt. Sie braucht eine Gehhilfe.

Ein Fehler, irgendwo entstanden im Bauch einer gewaltigen Bürokratie.

Die kleine Geschichte aus den USA ist nichts verglichen mit dem, was Winfried Gutschwager aus Finsterwalde in der vergangenen Woche passierte. Auch der 47-jährige frühere Schlosser aus Brandenburg hatte Post bekommen. Nicht von den US-Marines, schlimmer, von der Agentur für Arbeit.

Die lud ihn ein zu einer "Informationsveranstaltung für landwirtschaftliche Saisonarbeit" am 22. März, elf Uhr, ins Jobcenter Finsterwalde. "Ick hab jedacht, die ticken nicht mehr richtig", sagt Gutschwager. "Wat für eine Frechheit."

Er rief an und erfuhr, dass es um Spargel stechen geht. Ganz bestimmt ein Irrtum, erklärte er dem Agenturmitarbeiter am anderen Ende der Leitung. Er könne keinen Spargel stechen, weil er schwerbehindert sei. Er sitzte im Rollstuhl. Als Folge von Diabetes wurden ihm 2005 beide Beine amputiert. Mit der Arbeitsagentur, die das alles längst wisse, habe er gar nichts mehr zu tun. Er sei Rentner "wegen voller Erwerbsminderung." Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung teilte ihm mit, er müsse erscheinen, behindert oder nicht. Also kam er, geschoben und ein Stück getragen von seinem Schwager. Schnell erkannte eine freundliche Arbeitsvermittlerin, dass Gutschwager schlecht in einem Rollstuhl über kilometerlange Felder der Niederlausitz fahren und Spargel ernten könne. Sie entschuldigte sich beim ihm.

So weit, so schlecht. Gutschwager, nun schon mal da, bestand darauf, sofort aus den Dateien der Arbeitsagentur gelöscht zu werden, damit sich der Quatsch nicht wiederhole. Er bat die Vermittlerin um Hilfe. Die eilte durch die Behörde auf der Suche nach einem Kollegen, der Gutschwager löschen sollte. Doch es war Mittwoch.

Kein Sprechtag im Jobcenter

Mittwochs hat das Jobcenter keinen Sprechtag. Keiner der Kollegen war bereit, dem Schwerbehinderten zu helfen. "Alle waren im Haus, keiner wollte mit mir reden", ärgert sich Gutschwager. "Und ick saß da in meinem Rollstuhl." Die freundliche Arbeitsvermittlerin bat drei Kollegen, außerdem den Teamleiter der Leistungsabteilung. Keiner war bereit, einen Finger zu rühren. Es sei Mittwoch. Der Herr Gutschwager brauche einen Termin, hieß es, anders gehe es nicht. Schließlich bekam er einen Termin, 6. April, vorher passe es nicht. Herr Gutschwager rollte nach Hause. Die freundliche Vermittlerin schämte sich.

Die Sache stand zwei Tage später in der Zeitung. Eine Lokalreporterin der Lausitzer Rundschau hatte Winfried Gutschwager zum Jobcenter begleitet. Der Schwager hatte sie vorher angerufen. Sie hat den ganzen Irrsinn säuberlich aufgeschrieben.

Die Arbeitsagentur entschuldigte sich bei Gutschwager. Was er erlebt habe, sei nicht hinnehmbar und werde zu Konsequenzen führen, schrieb der Chef der Arbeitsagentur, Heinz-Wilhelm Müller. "Weder das Jobcenter noch die Agentur für Arbeit vermitteln körperbehinderte Menschen in die Spargelernte!"

Gutschwager ist zufrieden, aber nicht ganz: Seit einem Jahr wisse die Agentur, dass er beinamputiert sei. Sogar aus dem Krankenhaus habe er dort angerufen. Trotzdem habe er mehrfach persönlich bei der Arbeitsagentur erscheinen müssen. Hingefahren, geschoben und getragen von seinem Schwager. Diese Fahrten vom Krankenhaus zur Arbeitsagentur will er jetzt für den Schwager erstattet bekommen.

Sein Kampf geht also noch ein Stückchen weiter. "Det wolln wa doch mal sehn", sagt er.

Quelle: Frankfurter Rundschau online vom 03.04.06 VON BERNHARD HONNIGFORT (DRESDEN)

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