Ein täglicher Überlebenskampf
Essen. Noch vor zehn Jahren gehörten sie zur Mittelschicht. Doch seit 2005 leben sie von Hartz IV. Nun verlangt die Arge, dass sie auch noch das Häuschen der Eltern verkaufen.
Wann sie zuletzt im Städtchen waren, Kaffee trinken? Oder ein gepflegtes Pils mit Freunden? Rolf B. zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, was heute ein Bier an der Theke kostet.” Leni B. schüttelt nur leise den Kopf. Die aktuellen Kneipenpreise sind für sie kein Thema. Bei ihr geht es ums Überleben – überleben mit Hartz IV. Und darum, ob Vater Staat Leni B. dazu zwingen darf, ihr Zuhause zu verscherbeln.
Das ist ein Einfamilienhäuschen mit Einliegerwohnung und Garten am Ortsrand einer Siedlung im westlichen Ruhrgebiet. Ihre Eltern haben es 1953 gebaut; als ihre Kinder kamen, wurde die Garage aufgestockt. 100 Quadratmeter Wohnfläche für alle vier – das war und ist ihr Zuhause. Die Mutter lebte bis zu ihrem Tod Mitte 2006 im Erdgeschoss auf 50 Quadratmetern: ihre eigene kleine Wohnung zum Garten. Seit gut einem Jahr macht die Arge Druck: Leni B. soll die kleine Wohnung verkaufen, um vom Erlös eine Weile zu leben.
Weil die Familie das verweigert, gibt es die Arbeitslosenhilfe – 700 Euro im Monat – nur noch als Darlehen, das alle zwei, drei Monate neu beantragt werden muss. Wie fühlt man sich dabei? „Ich wache jeden Morgen mit Bauchschmerzen auf”, sagt Leni B., „und abends schlafe ich mit Bauchschmerzen ein.”
Klage bei Gericht
Die B.s wollen ihr Haus nicht aufgeben. Nun liegt ihre Klage bei Gericht, ein Termin steht aus. Sie hoffen darauf, dass eine höhere Instanz ihren Lebensmittelpunkt rettet: Ein gepflegtes, einfaches Häuschen nah der Bundesstraße.
Tatsächlich heißt das Ehepaar anders als Rolf und Leni B. Doch nur wenige wissen, wie es um sie steht. So soll es bleiben. Ihr Fall aber ist nur einer von vielen im Land. Das Ehepaar B. steht für all' jene, die die längste Zeit ihres Lebens zur fleißigen, gut situierten „Mittelschicht” gehörten. Und die durch ganz normale Wechselfälle des Lebens dort gelandet sind, wo sie sich nie gesehen hätten: In der Armut. Im Leben mit Hartz IV.
Ohne staatliche Hilfe leben
Gern würden beide arbeiten und ohne staatliche Hilfe leben. Doch die Chancen stehen schlecht. Er ist 57, sie 56 Jahre alt. 25 Jahre lang war der Bankkaufmann angestellt, bis er 1992 schwer erkrankte. Nach der Rehabilitation suchte er wieder Fuß zu fassen – als Angestellter und als Selbstständiger. Ohne Erfolg; was blieb, sind Schulden.
Sie ist gelernte Bürokauffrau und war berufstätig bis 1988, als die Tochter kam. Später pflegte sie über Jahre die Mutter. Heute hat sie einen Mini-Job in der Kirchengemeinde, 170 Euro im Monat bleiben ihr davon. Wichtiger als das Geld sei aber der Draht zur Außenwelt. „Wer so lebt wie wir, vereinsamt psychisch total”, sagt sie. „Man mauert sich ein, zugleich fällt einem die Decke auf den Kopf.”
Alles gemeinsam gemeistert
Das Denken kreise allein darum, wie man die Woche, den Monat durchsteht. „Jede Lebensqualität ist den Bach runter”, sagt ihr Mann. „Wozu soll man da noch morgens aufstehen?” Ihr großes Glück sei, dass sie bisher noch alles gemeinsam gemeistert haben, dass die Beziehung stabil ist. Und dass die Kinder da sind.
„Die halten uns über Wasser”, sagt Rolf B. bitter. Gute 1000 Euro verdient der Sohn, 377 Euro Bafög erhält die Tochter. Der Sohn zieht bald aus, er finanziert den Kleinstwagen. Die Tochter steuert Essensgeld bei. „Es ist tieftraurig: Da haben die Kinder ihr erstes eigenes Geld und wir kommen an und brauchen es zum Überleben”, sagt der Vater. „Dass man das von uns verlangt, ist einfach schäbig.” Die guten Zeiten liegen nicht so weit zurück: Mitte der 90er Jahre hatten sie ein gutes Einkommen; ein Alfa und ein flotter Honda standen in der Garage; zwei, drei Urlaube im Jahr – Skifahren oder Baden am Mittelmeer – waren üblich, Ausgehen zum Essen? Ins Kino? War Alltag.
Einmal pro Woche einkaufen
Alles vorbei. „Wir fahren nicht mal raus ins Grüne – bei den Spritpreisen.” Eingekauft wird einmal in der Woche, für 90 Euro höchstens. Leni B. zaubert aus Reis, Kartoffeln, Nudeln ein tägliches Mahl. Fleisch gibt es selten. „Rouladen mit Rotkohl und Klößen? Daran zu denken, verkneifen wir uns.” Das Geld reicht jetzt schon vorn und hinten nicht. Den Schuldenberater haben sie gefragt: Was sonst ist verzichtbar? Viel fand er nicht: die Hausratversicherung, die Unfallversicherung. Und die Zahnzusatzversicherung, 50 Euro im Monat, für alle. Sie werden sie kündigen. Nur eins wollen sie um keinen Preis verlieren: das Zuhause.
Die Arge sieht das anders. Die kleine Wohnung – leer seit dem Tod der Mutter – müsse vermietet werden, forderte sie erst. Dazu müsste sie vorher saniert werden, sagt Rolf B.: Die Stromkabel sind morsch und brandgefährlich, die alten Abflüsse im Bad ständig verstopft. 15.000 Euro würden die Reparaturen kosten, besagte der Kostenvoranschlag. „Das Geld haben wir nicht.”
Nächster Vorschlag der Arge: verkaufen. 85.000 Euro würde die Wohnung im Erdgeschoss einbringen. „Ein Phantasiepreis, völlig irreal”, hörten die B.s von ihrer Bank: „In dem Zustand wären vielleicht 30 000 Euro zu erzielen.” Nach Abzug der Belastung (100.000 Euro Hypothek liegen auf dem gesamten Haus) und fälliger Notar-Kosten blieben dann noch 20.000 Euro netto übrig – viel zu wenig, um bis zur Rente davon zu leben.
Nun klagt die Familie gegen die darlehensweise Zahlung der Alg-II-Leistungen. Und gegen die Verfügung, einen Teil des Hauses zu Geld zu machen. Der Restwert der oberen Wohnung reiche nicht zur Sicherung der Hypothek, hatte ihnen die Bank erklärt. Im Klartext: Dann wäre auch der Rest des Hauses bald unterm Hammer. Das Ergebnis wäre: Haus weg, Geld weg, womöglich zusätzliche Schulden am Bein. Bei dem Gedanken bleibt Rolf B. nur Sarkasmus pur: „Dann würde der Staat uns wohl eine neue Wohnung voll finanzieren.”
Jeder Fall ist ein Drama
Wieviele sich um die Wohnung drehen, weiß niemand: Diese Statistik wird nicht geführt. Doch der Fall der Familie B., die er vertritt, sei kein Ausnahmefall, sagt der Duisburger Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Conradis.
„Immer häufiger geht es darum, ob Arbeitslose und ihre Familien die eigene Wohung, das eigene Häuschen behalten dürfen”, erlebt der Experte für Sozialrecht und Hartz IV in seiner Kanzlei. „Zunehmend werden ältere Arbeitslose dazu gedrängt, ihr Häuschen oder ihre Eigentumswohnung zu verkaufen – andernfalls werden die Leistungen eingestellt.” Betroffen seien oft Familien, die über Jahre mit Sparsamkeit und Fleiß Eigentum erwarben. Meist kein großes Anwesen, sondern ein Reihenhaus, eine Wohnung für sich und die Kinder. Im Alter, so ihre Planung, wollten sie miet- und sorgenfrei leben.
Doch wer länger als ein Jahr arbeitslos ist und dann Hartz-IV-Leistungen bezieht, steht zunehmend unter Druck. Die Argen sind neuerdings aufgefordert, die Gesetze sehr eng auszulegen. Ein weiteres Problem: Gehen die Kinder aus dem Haus, ist auch ein 130-Quadratmeter-Häuschen für die Eltern schnell zu groß. Ihnen stehen dann nur noch maximal 90 Quadratmeter zu.
Bei einer Eigentumswohnung stünden einem Ehepaar mit zwei Kindern maximal120 Quadratmeter Wohnfläche zu, entschied das Bundessozialgericht im letzten Jahr. Ist die Wohnung oder das Haus größer, muss das eine wie das andere verwertet – sprich: verkauft – werden. Dabei zählt weder, ob es das Elternhaus ist, noch die aktulle Marktlage.
Das Gesetz besagt zugleich: Das selbst genutzte Eigenheim, die Eigentumswohnung, gehören zum „Schonvermögen” und müssen nicht verwertet werden, wenn sie eine „angemessene Größe” haben. Was angemessen ist, kann aber oft erst ein Gericht klären. „Da jeder Einzelfall für sich zu beurteilen ist, lohnt es sich immer, zu klagen”, macht Conradis besorgten Eigentümern Mut. „Wer etwa zwei Jahre vor der Rente steht, kann nicht mehr zum Verkauf gezwungen werden.” Das, sagen selbst Richter, sei unzumutbar.
Quelle: WAZ vom 27.05.08