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Beobachtungen und Überlegungen zu zwei Jahren Hartz IV

Startphase für eine allgemeine Arbeitspflicht in der gesellschaftlichen Reproduktion?

Zu Jahresbeginn 2007 war die Umsetzung der arbeitsmarktpolitischen Regelungen, die nach Herrn Hartz benannt worden waren - und zwar Hartz IV - zwei Jahre gelaufen. Nur zur Erinnerung sei angemerkt, dass die drei vorausgegangenen Instrumente der Hartz-Gesetze I, II und III ihre arbeitsmarktpolitische Unwirksamkeit auch nach einem von der Regierung bestellten Gutachten erwiesen hatten und mehr oder weniger unauffällig reduziert oder eingestellt worden sind. Der 3. Geburtstag war nun auch Anlass, Hartz IV, und insbesondere das Instrument "Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung", in seiner Wirksamkeit offiziell zu evaluieren. Vgl. IAB-Forschungsbericht Nr. 2/2007 "Soziale Arbeitsgelegenheiten. Einsatz und Wirkungsweise aus betrieblicher und arbeitsmarktpolitischer Perspektive" von Anja Kettner und Martina Rebien.

Der unbedingt zu lesende Bericht entlarvt in seltener und seltsamer Offenheit die falsche Anlage, die schlechten Ergebnisse und die schwerwiegenden Nebenfolgen von Hartz IV. Es scheint, als sollte hier die Grundlage für eine Revision des Programms vorgelegt werden. Die Untersuchung benutzt Erhebungen im 4. Quartal 2005 - dies war ein Zeitraum, in dem der bis dahin steile Anstieg der Fallzahlen überging in eine bis heute bei allen Schwankungen in etwa gleich bleibende Höhe. Hier sollen nur wenige grobe Hinweise auf Feststellungen und Ergebnisse gemacht werden (dabei wird darauf verzichtet, die enormen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zu vermerken:

  • Anzahl der Ein-Euro-Jobs in der Bundesrepublik insgesamt ca. 400.000 (bei ca. 5 Mill. Arbeitslosen, davon ca. 2,8 Mill. Langzeitarbeitslose), davon ca. 60% Männer und 40% Frauen.

  • Die wesentlichen aufnehmenden Wirtschaftszweige:
    Soziale Dienstleistungen (ca. 50% aller Ein-Euro-Jobs),
    Sonstige Dienstleistungen (ca. 30%),
    Öffentliche Verwaltung (ca. 20%).
    Je Ein-Euro-Job waren ca. 11 sozialversicherungspflichtig beschäftigt bei den Sonstigen Dienstleistungen, ca. 21 bei den beiden anderen Wirtschaftszweigen.

  • 50% aller Menschen in Ein-Euro-Jobs hatten eine berufliche Ausbildung,
    2% eine Hochschulausbildung,
    weniger als die Hälfte waren Un- oder Angelernte;
    9% hatten gesundheitliche Beeinträchtigungen;
    75% waren länger als zwei Jahre arbeitslos.

  • Die weitaus häufigsten Tätigkeiten wurden in den Sparten Hausmeisterdienste, Garten- und Landschaftspflege, Betreuungs- und Pflegedienste, Verwaltung ausgeführt.

  • Als "Gewinne" stellten die Betriebe fest:
    Entlastung im Arbeitsalltag (73% --- 10% machten keine Angabe),
    Verbesserung des Leistungsangebots (50% --- 13%),
    Einsparen von Personal (4% --- 20%!),
    Erledigung zusätzlicher Arbeiten (65% --- 10%),
    Einsatz zur Kranken- und Urlaubsvertretung (21% --- 20%),
    Abbau von Überstunden (12% --- 22%),
    Erweiterung von Betriebs- und Öffnungszeiten (6% --- 20%).

  • Zur Übernahme in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis gaben die Betriebe an:
    2%: "Ja, fest beabsichtigt" und
    5%: "Ja, wir denken darüber nach".

Damit bestätigt der IAB-Forschungsbericht umstandslos die Berechtigung der Fragen und Befürchtungen, die in Arbeitsloseninitiativen und Montagsdemos, in linksoppositionellen Gruppen und Parteien angesammelt, diskutiert und zwei Jahre lang Protest hervorgerufen hatten. Er unterstreicht auch alle empirischen Ergebnisse, wie sie punktuell ermittelt worden sind. Z.B. in der Studie "Der workfare-state – Hausarbeit im öffentlichen Raum?" zu Ein-Euro-Jobs 2005/2006 in Dortmund, über die Irina Vellay in der jungen welt Nr.1 und ich in Nr. 2/2007 berichtet haben.

Aus dieser Studie sollen hier nur wenige ausgewählte Sachverhalte und Ergebnisse angemerkt werden, die o.a. Artikel können nachgelesen werden, ein Forschungsbericht wird gerade fertiggestellt.

Hartz IV organisiert die "arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen" in einer Zone, die im Sinne des Wortes gesetzmäßig jede Warenförmigkeit ausschließt:

  • Die Arbeitsgelegenheiten dürfen nur zusätzlich sein, der Dienst in ihnen darf nicht warenförmig organisiert sein,
  • der Dienst in den Arbeitsgelegenheiten darf keinen warenförmigen Einsatz von Arbeit im ersten Arbeitsmarkt verdrängen,

  • der Dienst in den Arbeitsgelegenheiten muss einem öffentlichen Interesse dienen, das kein warenförmiges sein darf.

Aus den so von aller Warenförmigkeit freigestellten Arbeitsgelegenheiten führt systematisch kein Weg in den ersten Arbeitsmarkt. Wenige Ausnahmen - in der Anzahl gibt es hier nicht mehr Zugänge zum ersten Arbeitsmarkt, als es sie ohne jede "Förderung" geben würde - bestätigen die Regel. Sie sind eher Anlass zu Anekdoten als etwa Hinweise auf strukturell und bewusst hergestellte Erfolge – im Prinzip werden diese gar nicht gesucht.

Alle vorgeschriebenen Verfahrensweisen in der Umsetzung von Hartz IV widersprechen dem formulierten Ziel diametral - ein Zugang zum ersten Arbeitsmarkt wird den arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen durch sie nicht eröffnet, er wird ihnen im Gegenteil "regelgerecht" verschlossen.

Die zwar empirisch beobachtbaren, aber nicht öffentlich formulierten sondern verdeckten Agenden des Langzeitexperiments sind denn auch andere:

  • Die Ein-Euro-Jobber/innen führen Arbeiten und Dienstleistungen aus, die notwendig sind, aber warenförmig nicht mehr ausgeführt werden (sollen),

  • die Arbeiten und Dienstleistungen in diesem Sektor der gesellschaftlichen Reproduktion müssen jedoch staatlich gesichert werden,

  • diese Sicherung soll mit Hilfe von Arbeits- und Dienstverpflichtungen kostengünstig hergestellt und aufrechterhalten werden,

  • in dieser Perspektive rückt eine nichtwarenförmig organisierte Zone erzwungener Arbeit und Dienstleistung ins Blickfeld,

  • dieses Projekt eines radikalen Umbruchs erfordert eine Versuchanordnung zur Erprobung und Einübung.


Es ist das Langzeitprojekt, einen "workfare state" als Ultima ratio neoliberaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einzuführen. In der Verfolgung dieses Ziels macht der Versuch Hartz IV Sinn. Zur Einführung liefert das Gesetz dem Experiment handhabbare Regelungen und eröffnet ihm erste Durchführungsräume. Es ist zu vermuten, dass die anstehende Evaluierung des Experiments "Erfahrungen aus der Praxis" beisteuern wird, die noch vorhandene Freiräume schließen und lückenlosen Zwang einzufordern. Die inzwischen eröffnete Debatte über das Einrichten eines "3. Arbeitsmarktes" zeigt die Richtung auf.

Das Experiment unterliegt heftigen Einflüssen von innen und außen und hat in den ersten beiden Jahren höchst unterschiedliche und häufig chaotische Verlaufsformen angenommen. Zu den empirisch beobachtbaren Widersprüchen gehören:

  • Die Versuchung der ARGEn als Leistungsträger, im Unterlaufen der Regelungen von Hartz IV die Datenbasis ihrer Arbeitslosenstatistik zu "schönen" und zugleich ihre Zugriffsrechte auszuweiten,

  • die Versuchung aller Maßnahmeträger, im Unterlaufen der Regelungen von Hartz IV je nach ihren Möglichkeiten doch Gewinn aus der Durchführung zu ziehen und die Struktur ihrer Beschäftigung mit Hilfe erzwungenen Dienstes neu auszurichten,

  • die Versuchung der Kommunen als Maßnahmeträger, durch den massenhaften Einsatz nicht zu entlohnender Arbeitskraft ihre prekäre Haushaltslage zu bessern, (3 Ein-Euro-Jobber/innen ersetzen eine Vollzeitkraft im unteren bis mittleren Qualifikationsniveau)

  • die Versuchung der Ein-Euro-Jobber/innen zu hoffen, innerhalb der Regelungen von Hartz IV ihren minimalen Existenzrahmen ausweiten und den versperrten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt doch öffnen zu können,

  • und nicht zuletzt die Versuchung "der Wirtschaft", im Ausnutzen der Regelungen von Hartz IV die tarifvertraglich vereinbarten und sonstigen Rahmensetzungen für die Beschäftigung zu erodieren und abzusenken.

Welche Berührungen mit und Übergänge in den "Betrieb" gibt es?
Der Unternehmer nimmt die neue Figur der Ein-Euro-Jobber/in als einerseits überflüssig und abseits stehend wahr, auf die man nebenbei etwas achten muss. Andererseits eröffnen sich mit der Figur doch verwertbare Aspekte. In dieser Unschärfe können nur zufällig konstruktive soziale Beziehungen entstehen, im Regelfall bleibt der dienstverpflichtete Mensch außerhalb der Sozialverhältnisse des Betriebs. Die Klasse kommt so nicht zusammen.

Die Beschäftigten nehmen die neue Figur nur wahr, wenn ihnen eine Aufgabe im Kontext zu ihr übertragen wird - Anleiten, Aufpassen etc. Das prägt ihren Umgang je nach Schwere der zusätzlichen Belastung und nach Chancen einer Entlastung. Ein klassisch kollegiales Verhältnis ist auf dieser Grundlage nicht herzustellen. Alle anderen Menschen im Betrieb befassen sich nicht mit der Figur, häufig begegnen sie ihr gar nicht. Die betrieblichen und arbeitsrechtlichen Mitgestaltungsinstrumente werden nicht angewandt, die neue Figur "gehört nicht dazu".

Die Ein-Euro-Jobber/innen sind im Betrieb Fremde auf Zeit und wissen das. Der Betrieb als Sozialverhältnis ohne eine Entwicklungsperspektive für sie tritt ihnen äußerlich gegenüber, auf Zeit verpflichtend, mehr nicht. In der Regel herrscht ihnen gegenüber Gleichgültigkeit.

Der Zugriff auf die dienstverpflichteten Menschen in den Arbeitsgelegenheiten unterscheidet sich graduell nach Art des Trägers und danach, ob Frauen oder Männer und formal niedriger oder höher Qualifizierte dienstverpflichtet sind:

  • sozialgewerbliche Unternehmen nutzen die Dienstverpflichtung stärker aus, hier wird häufig intensiver und extensiver, über die gesetzlichen 30 Stunden hinaus, gearbeitet, ungeregelt und unbezahlt, quasi ehrenamtlich und unter dem Signum der "guten Sache" - kommunale und öffentlich-rechtliche Unternehmen pflegen, konfliktmeidend, eher ein "Laissez Faire",

  • Frauen und Männer werden überall so eingesetzt, wie es für sie geschlechtsspezifisch vorfixiert ist - sowohl in den beruflichen Feldern, Tätigkeiten und Rollen als auch in der unterschiedlichen Verfügbarkeit,

  • formal niedriger Qualifizierte werden "gefesselter" eingesetzt als formal höher Qualifizierte, für die alles "freier" vor sich geht; in der jeweiligen Ebene aber werden alle gleichermaßen in Hilfs- und reproduktiven Positionen eingesetzt.

Im betrieblichen Interesse ist der dauerhafte Einsatz der mindestens kostenneutral, wenn nicht gewinnbringend zu verwaltenden Ein-Euro-Jobber/innen keineswegs uninteressant. Eine Analyse der Entwicklung von Arbeitsprozess und Arbeitsorganisation und der Veränderungen in Technikeinsatz und Beschäftigtenstruktur würde schnell zu Tage fördern, wie sehr Rationalisierung gerade den Sektor der Hilfs- und reproduktiven Tätigkeiten in allen Branchen vernichtet hat. Da trifft es sich gut, dass er in öffentlicher Finanzierung wieder aufgefüllt werden kann – wenn auch, von den Unternehmen häufig beklagt, leider (noch) eingeschränkt durch missliches Regelwerk wie z.B. die Kurzfristigkeit der Arbeitsgelegenheiten, d.h. den Wechsel des Personals alle sechs bis neun Monate, und die Einschränkungen der Einsetzbarkeit, d.h. das Erfordernis ständigen Lügens über die Art des Einsatzes.

Was beabsichtigt die herrschende Klasse mit der Installierung dieses "verlorenen Bereich"?
In der gegenwärtig experimentellen Phase zur Mobilisierung von Arbeitskräften für den Niedriglohnsektor und die Erprobung einer Dienstpflicht für ALG II-Empfänger/innen als Strategien gegen Massenarbeitslosigkeit wird eine Pluralität von Arbeitsformen und deren vielfältige Kombination nebeneinander sichtbar, um insgesamt die materielle Existenz der Menschen abzusichern:

  1. Existenzsichernde Erwerbsarbeit, quantitativ mit abnehmender Tendenz und zunehmend auf die Lebensphase zwischen 20 (25) und 40 (45) Jahre eingeengt,

  2. Kombilohnarbeit als nicht existenzsichernder Niedriglohn mit einem öffentlich getragenen (ALG II-) Anteil als Aufstockungsbetrag bis zum Existenzminimum des ALG II, quantitativ mit zunehmender Tendenz,

  3. allgemeine Dienstverpflichtung als "öffentliche Hausarbeit" der erwerbsfähigen Arbeitslosen in ALG II, zur Zeit zuzüglich Mehraufwandsentschädigung, die kann jedoch jederzeit schwinden, der "Dritte Arbeitsmarkt", quantitativ mit zunehmender Tendenz.

Langzeitarbeitslosigkeit – die alte Klassenfrage
Auch Hartz IV ist als Instrument, Langzeitarbeitslose an den ersten Arbeitsmarkt heran zu führen und ihre Reintegration in ihn zu ermöglichen, so grundsätzlich und gründlich gescheitert, dass jenseits der Besichtigung des offen zutage liegenden arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Desasters und der Klage darüber nach der zugrundeliegenden politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Strategie der herrschenden Klasse zu fragen ist, um die Strategie der beherrschten Klasse beraten zu können.

Es geht um den jedenfalls hierzulande anwachsenden Teil der Klasse, dessen Arbeitskraft vom Kapital und den öffentlichen Unternehmen nicht warenförmig genutzt wird. Es geht um Arbeitslose, die klassische Reservearmee. Historisch ist diese "Armee" Teil der Arbeiterklasse, seit sie entstanden ist und solange sie sich formiert. Auch im entwicklungsgeschichtlich – was das Bestehen des Kapitalismus selbst anbetrifft - spät hergestellten so genannten "Klassenkompromiss", der ja von den ihn aushandelnden Parteien allseitig als der erreichbare und womöglich dauerhafte Erfolg angesehen und ausgegeben wurde, hat es diesen Teil der Klasse gegeben. Die systemisch und praktisch nie verschwundene Arbeitslosigkeit wurde im gesellschaftlich erarbeiteten und, nach Befriedigung der privaten Profitinteressen, dem "Sozialstaat" zugeteilten Surplus von ihm unterhalten - auf der Grundlage ausgehandelter Sozialpakte der Tarifparteien und auf gesetzlicher Grundlage, eben dem Kompromiss.

Die materielle und ideologisch-politische Fähigkeit zur gesellschaftlich organisierten Reproduktion "im System" zu entwickeln und zu erhalten, war der reformistische Klassenkompromiss. Arbeitslosigkeit war im System aus privater Verwertung des Einsatzes von Arbeitskraft durch die Eigner von Produktionsapparat und natürlichen Ressourcen und aus gesellschaftlich organisierter Reproduktion und Daseinsfürsorge wie selbstverständlich stets vorgesehen und wurde sozusagen "sozialversichert". Das schien das Wichtigste – es rührte nicht an den Kern des Prinzips - und es schien auf ewig machbar.

Dieser "Klassenkompromiss" existiert so nicht mehr. Nebenbei: auch in der Phase seiner Hochblüte – in der alle ihn lobten und der sozialistischen Alternative als Vorbild vorhielten - hatte stets Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit, zwischen der Verfügung über Eigentum und der Freiheit von ihm bestanden. Allerdings konnte diese Asymmetrie auf hohem Niveau "sozialverträglich" gestaltet und ideologisch durchgesetzt werden. Die materielle und politische Grundlage für dieses gesellschaftliche Modell ist ökonomisch, technisch und moralisch verschlissen, sie schwindet empirisch beobachtbar, beschleunigt in der neoliberalen Verfasstheit der Politik des Kapitals und der des staatlichen Apparats. Das Modell – die Organisation der gesellschaftlichen Entwicklung auf der Grundlage kapitalistischer Warenproduktion und –konsumtion – scheint an seine Grenzen zu stoßen und vor der Perspektive zu stehen, in dieser Form nicht bestehen und insgesamt nicht überleben zu können.

Hier ist nicht der Platz zu analysieren, was die Anstöße zu dieser Dynamik waren, wie der bisherige Verlauf ging, was die bürgerliche Therapien waren und sind und wie das weitere Siechtum sich ziehen wird.

Der uns hier beschäftigende Sachverhalt ist die offenbar werdende Unfähigkeit des warenproduzierenden und –konsumierenden Kapitalismus, seine Reproduktion zu erhalten und zu sichern, davon zu schweigen, sie höher zu entwickeln. Die seine Existenz allein konditionierende Fähigkeit, die Ware Arbeitskraft systemadäquat – quantitativ wie qualitativ einzusetzen, schwindet zusehends. Immer größere Teile der Mehrwert produzierenden Klasse werden aus Produktion und Reproduktion herausgenommen – "freigesetzt" und als für dieses Modell überflüssig ausgesondert. Konkret heißt das und ist das empirisch so zu beobachten:

  1. Das Kapital selbst – Verbände, Unternehmen und Betriebe haben die Reproduktion ihres Wirtschafts- und Produktionsprinzips oder gar dessen Entfaltung durch eine adäquate Konditionierung der Ware Arbeitskraft teilweise oder gänzlich aufgegeben und sich auf kurzfristiges Überleben durch extensives Dumping von Qualitäten und Qualifikationen eingestellt.

  1. Der "Sozialstaat" wird nicht mehr für die Aufgabe konditioniert, also konzeptionell wie materiell nicht mehr dafür ausgestattet, Arbeitslosigkeit durch Reintegrationsstrategien und -leistungen so zu behandeln, dass der Markt die erhaltene und erneuerte Ware Arbeitskraft wieder annimmt. Der hat darauf weithin, im Prinzip zur Gänze verzichtet. Der "überflüssig" gemachte Teil der Klasse soll nicht mehr im System aufgehoben bleiben, sondern nur noch so kostengünstig wie irgend möglich alimentiert werden. Die Alimentierung kann in diesem Kalkül der herrschenden Klasse auf (fast) Null gefahren werden, wenn im Gegenzug Dienstleistung erbracht wird, die im Warenprinzip als nicht herstellbar ausgegeben wird.

  1. In dieser Strategie kann das Existenzminimum – die Alimentierung – gar nicht minimiert genug gerechnet werden - der Ausschluss aus der Warenproduktion zeitigt auch den Ausschluss aus der Warenkonsumtion. Wertkonservative Teile der Bourgeoisie helfen mit Sozialkaufhäusern, Suppenküchen und Tafeln, medizinischer Versorgung durch Ehrenamtliche und Medikamentenspenden diesen Zustand individuell zu überleben und zugleich gesellschaftlich zu erhalten.

  1. In dieser Strategie wird das rasante Anwachsen nicht (mehr) warenförmig zu organisierender Dienstleistungen in der gesellschaftlichen Reproduktion durch den systematisch ausgepowerten Staat so gesteuert, dass ein quantitativ und qualitativ angemessener Beschäftigungsmarkt für die Ausgeschlossenen gegeben ist und mit dem Zwang zur "Beschäftigung gegen Alimentierung" auch ausgefüllt werden kann.

  1. Der zugleich sich entfaltende und ausdifferenzierende Niedrigstlohnsektor stellt ein Überlaufsystem her, mit dessen Hilfe "konjunkturelle" Schwankungen in den Bedarfen von Plätzen für Beschäftigung und für Niedrigstlohn ausgeglichen werden können. Allerdings wird nicht viel übergelaufen werden, am wenigsten in der Richtung "nach oben", in den Niedrigstlohnsektor hinein. Gleiches gilt, womöglich noch verstärkt, für die Grenze zwischen Niedrigstlohn- und Niedriglohnsektor.

Die politische Arbeiter- und die Gewerkschaftsbewegung haben den hier skizzierten Teil der Klasse nie wirklich im Blick gehabt – vielleicht mit und seit Marx nicht? Im Kern ihres Blickfelds und ihrer theoretischen und praktischen Mühen standen stets - und stehen bis heute – die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Angestellten, die Lohn- und Warenabhängigen, die Großbetriebe usw. In diesem Blick haben sie - zugespitzt formuliert sehr allein - die Kämpfe gegen das Kapital zu führen und zu bestehen, verantwortlich für die zu gestaltenden Gegenwarten des Kapitalismus, für die "Kompromisse" und schließlich für den endlichen revolutionären Bruch mit ihm.

In den sich – innerhalb des kapitalistischen Systems – radikaler (als gedacht, prophezeit oder geglaubt) verändernden gesellschaftlichen Zuständen brechen Widersprüche gerade für die politische Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in und gegenüber diesem Teil der Klasse auf, auf die sie wenig oder nicht vorbereitet sind. Die alten "Rezepte" reichen nicht aus und neue Strategien sind nicht ohne Besserung des Kenntnis- und Erfahrungsstands zu entwickeln.

Das Projekt Klassenanalyse@BRD
Wir haben gerade begonnen, die Lage der beherrschten Klasse marxistisch zu erfassen und sie auf einem neuen Kenntnis- und Erfahrungsstand marxistisch neu zu definieren – das Projekt Klassenanalyse@BRD der Marx-Engels-Stiftung versteht sich als Impuls zu diesem notwendigen Prozess der Entwicklung von Theorie und Praxis der politischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. In dem Projekt spielt der skizzierte Sektor eine – wie kann es anders sein nach der Historie – noch schmale Rolle, vgl. Nicole Mayer-Ahuja und Richard Albrecht in Umbau der Klassengesellschaft, Essen 2006.

Ich plädiere dafür, diesen Aspekt im Projekt in der Folge stärker zu gewichten. Eine Reihe von Aufgaben kann nun benannt werden, deren Bearbeitung notwendig ist und helfen kann, die Klassenkämpfe im Interesse der beherrschten Klasse zu befördern:

1. Genauere theoretische Auseinandersetzung mit den empirisch beobachtbaren Veränderungen in der kapitalistischen Warenproduktion und –konsumtion:

  • das sich verändernde Verhältnis zwischen warenförmiger und gebrauchsförmiger Organisation in Produktion und Reproduktion

  • die wachsende Unfähigkeit des Systems zur gesellschaftlichen Integration seiner Teile

  • die wachsende "Überflüssigkeit" und das Abspalten ganzer Sektoren aus der Warenform und aus der Gesellschaft,

  • daraus erwachsende Veränderungen in der Klassenstruktur und im Geschlechterverhältnis.


2. Genauere empirische Analyse von Qualität, Ausmaß und Entwicklungsdynamik

  • des Niedrig- und Niedrigstlohnsektors im "Ersten Arbeitsmarkt" und im geförderten "Zweiten Arbeitsmarkt",

  • der derzeitigen "Ein-Euro-Jobs" und des angekündigten "Dritten Arbeitsmarkts",

  • der Arbeits- und Sozialbeziehungen in und zwischen diesen "Arbeitsmärkten" und zum eigentlichen, dem "ersten Arbeitsmarkt".


3. Neben dem Blick auf die konkreten Arbeits- und Lebensverhältnisse im zweiten und dritten Arbeitsmarkt hätten die qualitativen Analysen vor allem die Bedeutung - und die Chance - herauszuarbeiten

  • der Entwicklung von Bewusstsein und Strategien der politischen Arbeiter- und der Gewerkschaftsbewegung gegenüber, mit und in diesen Sektoren,

  • der Entwicklung der subjektiven und objektiven Veränderungspotenziale und des Geschlechterverhältnisses in diesen Sektoren,

  • der Entwicklung von Bewusstsein und Fähigkeit zum widerständigen Gestalten in diesen Sektoren selbst und über ihn hinaus zum Eintreten in den Klassenkampf.


von Wolfgang Richter
(Jahresversammlung der Marx-Engels-Stiftung am 17.02.2007 in Wuppertal)

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