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Alles Asche – oder was?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen bei Hartz IV. Ein Beitrag für die Zeitschrift AMOS, Heft 2/2010 von Heiko Holtgrave

Der Erste Senat des BverfG hat am 9. Februar entschieden [1]: Die Regelungen zu den Regelsätzen bei Hartz IV sind nicht grundgesetzkonform. Doch daraus folgt keineswegs – zur großen Enttäuschung der Kläger wie auch vieler anderer Betroffener – unmittelbar eine Anhebung der Leistungssätze. Wie das?

Geboten wurde in Karlsruhe großes Schauspiel, eines der letzten großen Kabinettsstücke des mittlerweile ausgeschiedenen Präsidenten Hans-Jürgen Papier. Die beklagte Bundes­regierung sah während der mündlichen Verhandlungen im Herbst – so wurde es jedenfalls in den Medien kolportiert – geradezu hilflos aus bei ihren Versuchen, das Regelsystem nach SGB II zu erklären und zu rechtfertigen; entsprechend aufgeladen waren die Erwar­tungen an den Urteilsspruch. Um am Ende doch - fast – ungeschoren davonzukommen.

Die Reaktionen auf dieses Meisterstück juristischer Aus­gewogenheit waren entsprechend gemischt: von lauthalsem Jubel bis zu harscher Kritik. Am pointier­testen hat sich vielleicht der Frankfurter Sozialwissen­schaftler Rainer Roth zu dem Urteil geäußert und erklärt, das Gericht habe die aktuellen Regelsätze letztendlich für verfassungsgemäß befunden und die Bundesregierung geradezu eingeladen, nur nach einer besseren Begründung zu suchen, statt die Regelsätze schleunigst anzuheben.

Rainer Roth gehört zu der Sorte Linken, die es mit ihren Texten sonst sehr genau nehmen, oder anders gesagt: die sehr viel Mühe aufwenden, die Wirklichkeit einzufangen. Umso enttäuschter war ich persönlich von seiner Rezeption der Richterentscheidung. [2] Er wollte anhand des Urteilstextes offenkundig mit aller Macht beweisen, was er von dem Gericht hält... nämlich herzlich wenig, und griff dazu zu einem Kniff, der zumindest in dieser Form unzulässig ist: der Methode des Umkehrschlusses. Die Richter hätten die Höhe der Regelsätze als „nicht evident unzureichend“ bezeichnet, also seien die Sätze aus ihrer Sicht offenkundig verfassungsgemäß, usw. usf.

Fast alle Umkehrungen auf den ersten Seiten seiner Stellungnahme sind juristisch un­haltbar wie auch politisch sehr vereinfachend. [3] Man darf in das Urteil nicht mehr hinein­heimsen wollen, als von dem Gericht angesichts der allgemeinen Rechtslage und der Vorlagebeschlüsse zu erwarten stand.

Für alle - auch die, die es nicht gerne hörten - wurde seitens des Gerichts noch einmal klargestellt, dass die – verfassungsmäßige - Würde des Menschen seine materielle Existenz wie auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe einschließt. Und der bürgerliche Staat zudem die Pflicht hat, die hierfür erforderlichen Mittel bereitzustellen, wenn (und soweit) der Bürger diese nicht aus eigener Kraft oder eigenem Vermögen aufbringen kann.

Das ist zunächst nicht viel mehr als ein Stück Papier, aber eines, das die Erwartungen an den Staat befeuern wird. Allein deshalb waren alle neo-liberalen Think-Tanks in den Folge­tagen bemüht, mit geballten Kräften nachzuweisen, dass zu hohe Geldleistungen Motivation rauben und nur eine sanktionsbewehrte Arbeitsförderung erfolgversprechend sein könne.[4] Mit Erfolg übrigens, wie man leider eingestehen muss: Sie schafften es, fast sämtliche Medien für ihre krude Sicht der Dinge einzuspannen, so dass sich bald wieder eine Mehrheit von Bundesbürgern fand, die der Meinung war, die Hartz IV-Regelsätze seien in Ordnung so, wie sie sind.

Essentials aus dem Urteil des BverfG vom 9. Februar 2010:

  1. Das Gericht sah – im Rahmen einer sog. Evidenzkontrolle [5] – keine Veranlassung, direkt in die Regelsätze einzugreifen – etwa, indem es mit sofortiger Wirkung eine Anhebung des Eckregelsatzes um einen bestimmten Betrag verfügt hätte.
    Es lässt allerdings durchblicken, dass manche Aspekte des „regelsatzrelevanten Ver­brauchs in den Regelsätzen für Erwachsene, Kinder und Jugendliche unzureichend abgebildet sind.
  2. Das Gericht konnte ferner keine Gründe erkennen, die grundsätzlich gegen eine Herleitung aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe EVS, und dort aus dem untersten Einkommens-Quintel, sprechen (sog. Statistikmodell).
    Es übt aber z.T deutliche Kritik an der Auswahl berücksichtigter Verbrauchspositionen (z.B. fehlender Ansatz für Bildung), der teilweise willkürlichen Kürzung einzelner Positionen wie auch am „Maßstabswechsel“ bei der Bemessung von Anpassungsbeträgen an veränderte Lebenshaltungskosten. Und es gibt dem Gesetzgeber auf, „die Regelleistung in einem verfassungsgemäßen Verfahren bis zum 31. Dezember 2010 neu festzusetzen“ (Rdnr. 216 des Urteils).
  3. Das Gericht bekräftigt in zwei dem Urteil vorangestellten Leitsätzen, dass aus der Verfas­sung (Art. 1 Abs.1 i.V.m. Art. 20 GG) ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenzminimums abzuleiten ist. Dieses umfasse neben der physischen Existenz auch Mittel zur „Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens“ (Rdnr. 135). Denn der Mensch als Person existiere „notwendig in sozialen Bezügen“ (ebenda). Aus diesem Recht erwächst für den Fall von Hilfebedürftig­keit ein entsprechender – unverfügbarer – Anspruch gegenüber dem Staat (Rdnr. 133/134).
    Dieser aus der Schutzpflicht des Staates abzuleitende Leistungsanspruch erstrecke sich „nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind“ (Rdnr. 135). Das Leistungsniveau habe sich jedoch „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedin­gungen auszurichten“ (Rdnr. 133) und bedürfe der „stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber“ (Rdnr. 133; s. auch 138 u. 140).
  4. Eine Standardisierung in Form von Festbeträgen ist aus Sicht des Gerichts grundsätzlich zulässig. Diese befreie den Staat aber nicht vor Ansprüchen, die sich aus besonderen Umständen des Einzelfalls ergeben. Eine Härtefallregelung, die über den Durchschnitts­bedarf „hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen“ aufnimmt, sei zwingend erforderlich (Rdnr. 204-209). Da eine entsprechende Öffnungsklausel im bislang geltenden Recht fehlt, ordnet das Gericht an, dass solche Ansprüche mit sofortiger Wirkung, also bereits vor der geforderten gesetzlichen Neuregelung, geltend gemacht werden können (Rdnr. 220, Anordnung in Nr. 3 des Urteils).

So bitter das Ergebnis in Teilen ist, und so unverbindlich es in vielen Einzelheiten bleibt: Es belegt eben nicht die These, dass das Gericht vieles, aber eigentlich auch wieder gar nicht gesagt habe, was die Forderungen der erwerbslosen Menschen nach einem erträg­lichen Dasein unterstützen könnte. Es ist vielmehr zu hoffen und zu erwarten, dass zahlreiche Formulierungen aus Urteilstext samt Begründung in Klageschriften Betroffener gegen Leistungsbescheide Eingang finden werden. Das ist gut und nicht schlecht.

Die verhältnismäßig kurze Frist bis zum 31.12.2010 für eine verfassungsgerechte Über­arbeitung der Regelsätze nach SGB II müsse, so das Gericht, „angesichts der lebens­bestimmenden Bedeutung der Regelung für eine sehr große Zahl von Menschen ausreichen“ (Rdnr. 216). Zumindest an dieser Stelle mal eine kleine Referenz an die schwierige Lage von 3,6 Mio. Hartz IV-Haushalten. Den Ankündigungen von Frau von der Leyen im Januar [6] wurde mit der engen Fristsetzung ausdrücklich widersprochen. Als zu grobmaschig angegriffen wird im übrigen auch der 5-jährige Anpassungsrhythmus nach § 20 Abs. 4 (s. Rdnr. 214).

Gewiss: Der Urteilsspruch ist weder eine „Sensation“ (Partei Die Linke im BT) noch „eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung“ (Der Paritätische) [7] – allenfalls ein freund­schaftlicher Klapps in Richtung Bundesregierung, verbunden mit ein paar Arbeitsauf­trägen. Immerhin enthält er aber eine klare Absage an den Almosenstaat (s. Rdnr. 136) und weist diejenigen in die Schranken, die unverhohlen auf das Erpressungspotential unzureichender Regelsätze setzen. [8] Insofern ist er mehr als nur ein „Hartz IV-Verteidi­gungsurteil“ (Roth). [9]

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Schaffung eines einheitlichen Fürsorge­systems für Erwerbsfähige ohne Arbeit in Form von Hartz IV blieben von den Karlsruher Richtern unbeanstandet. Unbeanstandet auch die enge Verschränkung von Leistungs­anspruch und Pflichten des Arbeitssuchenden – hierin steckt ja die eigentliche Brisanz, nämlich die disziplinierende Funktion des Hartz IV-Systems. [10]

Auch die Regelsätze sind für das Gericht zumindest von der Größenordnung her vertret­bar. Durch das Urteil angegriffen werden nur die Methoden, nach denen die Regelsätze bislang zustande kommen. Genauer noch: Die Vorschriften über die Höhe der Regel­leistungen nach §§ 20 Abs. 2 u. 3 und 28 SGB II werden in der alten – wie auch in der aktuellen – Fassung nur insoweit als nicht mit dem Grundgesetz vereinbart erklärt, als die Beträge „nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt worden“ sind. [11] Ihre Nichtig­erklärung hat der Senat hingegen aufgrund des dann entstehenden noch größeren Schadens ausdrücklich abgelehnt (s. Rdnr. 210).

In Würdigung aller Einzelheiten der Begründung des Urteils dürfte die Bundesregierung aber um eine Anhebung der Regelsätze, zumindest der für Kinder und Jugendliche, zum 1.1.2011 nicht herumkommen. Die grundsätzliche Billigung des Statistikmodells schließt andererseits auch eine Senkung von Regelsätzen nicht völlig aus – nämlich dann, wenn die Haushalte des untersten Einkommensfünftels durch immer niedrigere Löhne noch tiefer rutschen sollten. Hierauf weist neben Roth auch Wolfgang Lieb in seinem ersten Kommentar zum Urteil hin. [12]

Vertreter der Bundesregierung wie auch von einigen Wirtschaftsinstituten unterstrichen in den Folgetagen und -wochen, dass das Urteil ja gar nicht zwingend eine Erhöhung der Sätze impliziere. Es kämen schließlich auch Sachleistungen infrage. Und auch eine Senkung der Sätze sei nicht völlig ausgeschlossen. Als Totschlagargument wurde hierfür immer wieder das – angeblich gefährdete – Lohnabstandsgebot angeführt. Es handelt sich um bewusste Täuschungsmanöver, da dieser Abstand spätestens seit Bestehen der Regelungen zum Erwerbstätigenfreibetrag (Hinzuverdienst-Regelung nach § 30 SGB II) nie gefährdet war. [13]

An dieser Stelle wird aber deutlich, dass eine Kampagne, vornehmlich bezogen auf eine (massive) Erhöhung der Regelsätze, zu kurz greift und weder gerichtlich noch außer­gerichtlich erfolgreich sein dürfte. Es kommt vielmehr vor allem darauf an, die Ausweitung des Niedriglohnsektors zu stoppen. Denn hier vor allem liegt der Hase im Pfeffer, und sei es nur wegen der - gefühlten - Ungerechtigkeit gegenüber den erwerbslosen Leistungs­beziehern. [14] Wir sollten uns allein nur vergegenwärtigen, dass mittlerweile 27 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz IV-EmpfängerInnen zu den sog. Aufstockern gehören, also - zu niedriges - Erwerbseinkommen durch Fürsorgeleistungen nach SGB II aufstocken (müssen). [15]

Die Mitte Mai erfolgte Anhebung der DGB-Forderung zum gesetzlichen Mindestlohn auf nunmehr 8,50 €/Std. geht zwar in die richtige Richtung, aber sie ist immer noch unzu­reichend. Bei 8,50 € brutto wächst ein Alleinstehender selbst bei Vollzeitarbeit mal soeben aus Hartz IV heraus. Auch muss der durch die Sanktionierungspraxis der ARGEn aus­gelöste bzw. unterstützte Unterbietungswettbewerb unterbunden werden und wieder eine Obergrenze von max. 15 Stunden für Minijobs her, um den Billiglohnsektor auszutrock­nen. [16] Aber viel entscheidender noch die Frage: Wo bleibt der entsprechende gewerkschaftliche Druck?? Auf die Einsichtsfähigkeit oder eine Ablösung dieser Regierung zu hoffen, wäre fatal.

Zur Bedeutung von Hartz IV im sozialen Sicherungssystem

Die Bundesrepublik zählte im März 2010 laut offiziellen Angaben 4,75 Mio. Arbeitslose (einschl. derer, die sich in vorübergehenden Maßnahmen befinden = sog. Unterbeschäftigung ohne Kurzarbeit). Von ihnen gehörten - vorsichtig geschätzt - 3,0 Mio., also mehr als 60 %, in den Rechtskreis des SGB II (Hartz IV), waren somit größtenteils langzeitarbeitslos und bereits aus der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ausgesteuert.

Bei Vorliegen der Voraussetzungen für Bedürftigkeit erhalten sie – staatliche – Fürsorgeleistungen in Form von Alg II bzw. Sozialgeld (einschl. Kosten der Unterkunft). Im März waren 5,0 Mio. Arbeitssuchende und Beschäftigte im Leistungsbezug nach SGB II, plus 1,85 Mio. (nicht erwerbsfähige) Angehörige, die mit ihnen in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zusammenleben.

Hinweis: Der Bezug von Alg II hat – so widersinnig das auf den ersten Blick erscheinen mag - keine Arbeitslosmeldung zur Voraussetzung. Nach der jüngsten BA-Auswertung für Feb. 2010 waren nur 44 Prozent der Alg II-EmpfängerInnen arbeitslos gemeldet. Für die Nicht-Registrierung gibt es viele Gründe. Die größte Gruppe sind Menschen, die zwar als erwerbsfähig eingestuft sind, aber wegen Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Krankheit oder Schulbesuch dem Arbeitsmarkt nicht real zur Verfügung stehen.

Anm. Die Zahlen zur Bedeutung von Hartz IV im sozialen Sicherungssystem stammen aus: Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland - Monatsbericht Juni 2010, Nürnberg 2010

 

Heiko Holtgrave, 27.6.2010
Mitarbeiter von AKOPLAN – Institut für soziale und ökologische Planung e.V., Dortmund, und Mitglied im Dortmunder Sozialforum

 

  1. s. BverfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html
    Die in diesem Beitrag verwendeten Randnummern (Rdnr.) beziehen sich auf die entsprechende Nummerierung in der Urteilsbegründung.
  2. Rainer Roth, Ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu begrüßen? Nein!, Ausarbeitung vom 13.2.2010,http://klartext-info.de/blog/?p=110#more-110, auch: www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2010/HarzIV_BVerfG_Bewertung_Roth.aspx
  3. Verrückterweise argumentiert ja die Bundesregierung genauso, wenn auch mit anderer Absicht.
    s. hierzu Rüdiger Frohn, Nach dem Verfassungsgerichtsurteil: Der Kampf um die Umsetzung, Beitrag für die NachDenkSeiten v. 18.2.2010, http://www.nachdenkseiten.de/?p=4528#more-4528
  4. Vgl. Wolfgang  Lieb, Gehirnwäsche. Beitrag auf den NachDenkSeiten v. 22.2.2010, http://www.nachdenkseiten.de/?p=4558#more-4558
  5. Im Rahmen einer Evidenzkontrolle wird nur - „zurückhaltend“ - geprüft, ob die Sätze von ihrer Größenordnung her  „evident“ bzw. „offensichtlich“ unzureichend und damit fehlerhaft im Sinne der Rechtsgrundlage (hier: GG) sind.
  6. „Neue Regelsätze für Hartz IV wohl erst 2012“, FAZ v. 16.1.2010
  7. „Hartz IV und Karlsruhe: Was nun?“, Infoblatt der Bundestagsfraktion Die Linke v. 15.2.2010
    „Paritätischer zu Bundesverfassungsgerichts: Schallende Ohrfeige für die Bundesregierung“, PM des Gesamtverbands Der Paritätische v. 9.2.2010
  8. Die Rechtmäßigkeit von Leistungskürzungen infolge von Sanktionen nach §§ 31 u. 32 SGB II waren nicht Gegenstand des Verfahrens. Ex-Richter Papier hat aber in einem Interview mit der Zeitung 'Welt am Sonntag' sein Verständnis dazu dargelegt: „Wer eine zumutbare Arbeit ohne triftige Gründe ablehnt, muss mit einer Leistungskürzung rechnen. Sozialleistungen des Staates sind prinzipiell subsidiärer Natur; sie sollen nur dann gezahlt werden, wenn jemand in einer Notlage ist, aus der er mit eigener Kraft nicht herauskommt.“ Aus: Bundesrichter mahnt moderate Steuersätze an, Die Welt am Sonntag v. 28.2.2010, http://www.welt.de/politik/deutschland/article6587967/Bundesrichter-mahnt-moderate-Steuersaetze-an.html
  9. 9 Rainer Roth, a.a.O.
    Auch die in einem Artikel von Christian Girschner behaupteten Widersprüche zwischen Urteil und den späteren Papier-Äußerungen während des genannten Interviews (s. Fußn. 8) sind aus meiner Sicht überwiegend konstruiert. Ähnlich wie Roth suggeriert er fortwährend, dass das Gericht die bestehenden Regelsätze faktisch abgesegnet habe. Überdies übersieht G. geflissentlich den subsidiären Charakter des Leistungssystems nach SGB II. Genau darin besteht aber der Haupt-Unterschied zu einer Versicherungsleistung, etwa dem Arbeitslosengeld nach SGB III. Der eigentliche Skandal liegt m.E. woanders, nämlich in der von der Regierung Schröder/Fischer ab der Jahrtausendwende betriebenen Aushöhlung der eigentlichen Arbeitslosenversicherung, inklusive der Abschiebung aller längerzeitig Arbeitslosen in ein sozialhilfe-ähnliches Fürsorgesystem. Vgl. Christian Girschner, Abweichende Meinung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz IV-Urteil. Beitrag für die NachDenkSeiten v. 2.3.2010, http://www.nachdenkseiten.de/?p=4647#more-4647
  10. „Hilfebedürftig“ im Sinne des Gesetzes sind nur erwerbsfähige Arbeitssuchende und Beschäftigte, die ihren Lebensunterhalt einschließlich des Unterhalts der mit ihnen zusammenlebenden Angehörigen nicht (bzw. nicht vollständig) aus eigenem Einkommen bzw. Vermögen und nicht „durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit“ decken können (im Gesetzestext rangiert die zumutbare Arbeit sogar an erster Stelle!). Den „erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“ (im    Amtsdeutsch: eHb) „zumutbar“ ist grundsätzlich jede Form von Arbeit mit Entgelt – von Aushilfstätigkeiten, über Minijobs, Leiharbeit, Zeitarbeit, bis hin zu 1-Euro-Jobs.   Zusammengenommen mit den Sanktionsmöglichkeiten der Behörde (i. Form v. Kürzung oder gar Wegfall der Leistungen) steckt in diesen gesetzlichen Vorschriften ein hohes Erpressungs- und Abschreckungspotential. Mehr dazu s. Christoph Butterwege, Eine kritische Bilanz von Hartz IV fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zum 1.1.2005. Beitrag für die NachDenkSeiten v. 5.1.10, http://www.nachdenkseiten.de/?p=4438#more-4438
  11. Vgl. Rdnr. 173 ff. und Rdnr. 199 ff. Entsprechendes gilt im übrigen für die nach § 20 Abs. 4 bislang veröffentlichten Bekanntmachungen über die Höhe der Regelleistungen (Anpassungen).
  12. Wolfgang Lieb, Bundesverfassungsgericht: Eine schallende Ohrfeige, die nicht besonders weh tut. Beitrag für die NachDenkSeiten v. 10.2.2010, http://www.nachdenkseiten.de/?p=4514#more-4514
  13. Vgl. Johannes Steffen, Das gesetzliche Lohnabstandsgebot – eine Norm ohne Wert, Ausarbeitung v. 19.3.2010, http://www.ak-sozialpolitik.de/dukumente/2010/2010-03-19%20Lohnabstandsgebot.pdf, auch: Rüdiger Frohn, a.a.O
  14. Auf dieses Einfallstor für jede Form von Populismus weist J. Steffen nachdrücklich hin, a.a.O., S. 2 Verwiesen sei als Beispiel nur auf Westerwelles Worte vom „anstrengungslosen Wohlstand“ der Hartz IV-Bezieher. Wie das jüngste „Sparpaket“ der Bundesregierung zeigt, spekuliert diese geradezu damit, dass sich die abhängig Beschäftigten nicht um das Los ihrer erwerbslosen Kollegen scheren: Den Erwerbslosen soll bis Ende 2014 ein Sonderopfer von sage und schreibe 29 Mrd. € im Bereich der aktiven und passiven Leistungen der Arbeitsförderung abverlangt werden – mithin 35 Prozent des gesamten Einsparvolumens des „Pakets“! vgl. Merkel stellt Sanierungspaket vor: „Es sind ernste Zeiten, es sind schwierige Zeiten“, FAZ-Artikel vom 7.6.2010, sowie die Zusammenstellung der Arbeitnehmerkammer Bremen unter: http://www.ak-sozialpolitik.de/dukumente/2010/2010-06-09%20Sparpaket.pdf
  15. 1,34 Mio. von den 5,0 Mio. erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Rechtskreis des SGB II. Diese jüngsten von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichten Zahlen beziehen sich auf den Monat Februar 2010 – vgl. BA (Hrsg.), Grundsicherung für Arbeitssuchende in Zahlen, Berichtsmonat Juni 2010, S. 15
  16. Vgl. u.a. DGB-Bundesvorstand (Hg.), Einfach nicht genug zum Leben – Die Ausbreitung unfreiwillliger Teilzeitarbeit stoppen! (standpunkt Nr. 5/2009), und: Jens Berger, Hartz IV und der hausgemachte Niedriglohnsektor. Beitrag für telepolis v. 11.2.2010, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32068/1.html


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