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Wenn Hartz IV zum Umzug zwingt

Berlin. Der Deutsche Mieterbund rechnet damit, dass 2006 gut 100 000 Bezieher von ALG II in billigere Wohnungen umziehen müssen - "vorsichtig geschätzt". Seit Januar werden ALG II-Bezieher vielerorts aufgefordert, ihre Mietkosten zu senken; oft bleibt nur ein Umzug. Mieterbund-Direktor Rips kritisierte, dass das Arbeitsministerium nicht die Zahl aller Bescheide erfasse: "Die haben Angst vor der Wahrheit."

Sechs Monate Galgenfrist

In diesen Tagen erhalten viele Bezieher von Arbeitslosengeld II die Aufforderung, ihre Mietkosten zu senken. Wut weicht der Resignation

Die Wut war groß und der Protest war es auch, "Weg mit Hartz IV" hieß der Slogan im Sommer 2004, der die Montagsdemos wiederbelebte und Rot-Grün ins Schwanken brachte. Inzwischen ist die Regierung abgewählt, die Linkspartei mit neuer Macht ins Parlament eingezogen - und Hartz IV seit über einem Jahr in Kraft. Dieser Tage werden überall im Lande Bezieher von Arbeitslosengeld II aufgefordert, ihre Mietkosten zu senken. Sechs Monate bleiben ihnen maximal für Verhandlungen mit dem Vermieter, die Aufnahme eines Untermieters oder eine Senkung der Nebenkosten, dann überweist das Amt nur noch die "angemessenen" Kosten, nicht mehr die tatsächlichen. Sie müssen also nicht ausziehen, doch wird vielen nichts anderes übrig bleiben, weil sie von den 345 Euro ALG II die Differenz nicht bestreiten können.

Dennoch gibt es diesmal keinen lauten Aufschrei, die Wut ist Resignation gewichen. Von einer "lautlosen Massendisziplinierung" spricht der Berliner Politik-Professor Peter Grottian. "80 bis 90 Prozent der Betroffenen regeln das allein, leihen sich Geld, verschulden sich. Es herrscht totale Vereinzelung und Verängstigung." Wer Angst hat, seine Wohnung zu verlieren, organisiert keine Demos. Auch den vielen sozialpolitischen Gruppen, die die Hartz-Gesetze seit Jahren bekämpfen, fällt es schwer, sich noch Gehör zu verschaffen. Zwar ist am 3. Juni in Berlin eine Demo geplant, doch Grottian befürchtet, dass es schwierig sein wird, die Menschen zu mobilisieren: "Das ist jetzt ein individualisierter Prozess."

Zudem beantworten die Jobcenter die Frage, was unter "angemessenem" Wohnraum höchst unterschiedlich. Da muss der lokale Wohnungsmarkt ebenso berücksichtigt werden wie der Einzelfall. So handhabt etwa Berlin die Regelung äußerst großzügig, verschont Alte, Kranke und Alleinerziehende weitgehend. Prüft außerdem, ob Kaution, Umzugs- und Renovierungskosten im Verhältnis zur Ersparnis stehen. "Wegen 50 Euro zieht hier niemand um", sagt die Sprecherin des Sozialsenats Roswitha Steinbrenner.

Andernorts herrsche dagegen "Augenmaßlosigkeit", beklagt Professor Grottian: "Da werden massenweise Bescheide verschickt, ohne zu gucken, ob es überhaupt billige Wohnungen für die Betroffenen gibt." Mit wie vielen Umzügen bundesweit zu rechnen ist, lässt sich freilich nicht sagen. Es fehle eine "seriöse Zahl", sagte Grottian. So sprechen einige Initiativen von bis zu 500 000 "Zwangsumzügen", während der Deutsche Mieterbund von gut 100 000 ausgeht. Empört ist Mieterbund-Direktor Franz-Georg Rips, dass das Bundesarbeitsministerium nicht die Zahl aller Bescheide erfasst. Angeblich gebe die EDV das nicht her: "Wir haben Arbeitsminister Franz Müntefering daher vor Wochen aufgefordert, sicherzustellen, dass die EDV umgerüstet wird."

Fragt man im Arbeitsministerium nach, erhält man indes die lapidare Auskunft, es handele sich bei den Mietkosten für ALG II-Empfänger um eine "kommunale Angelegenheit". Freilich, das räumt die Sprecherin ein, trage der Bund fast 30 Prozent der Kosten. "Die wollen die Zahlen nicht rausrücken", mutmaßt Rips. Und Grottian träumt davon, einen "symbolischen Zwangsumzug" für Müntefering zu organisieren.

Quelle: WAZ vom 06.04.2006 Von Christina Wandt


Wellen von Angst

Ihr Lebensinhalt war das soziale Engagement. Dann geriet sie selbst in den Fänge von Hartz IV

Berlin. Und wieder kämpft sie. Ellen Diederich ist Diplom-Pädagogin und Friedensarbeiterin, sie hat ein Leben lang die Probleme der Welt zu ihren eigenen gemacht. Sie ist in El Salvador gewesen, in Nordirland und Bosnien, hat traumatisierten Frauen geholfen, Medikamente gebracht und Menschenrechte eingefordert.

Sie hat in Oberhausen ein Friedensarchiv aufgebaut und außerdem zwei Kinder groß gezogen. Mit 55 wurde sie erwerbslos, hangelte sich über Arbeitslosengeld und den Verkauf der Lebensversicherung bis zu Hartz IV hinunter. Im Januar bekam sie den Bescheid, ihre Wohnung sei zu teuer, sie möge binnen sechs Monaten die Kosten senken. Diese Wohnung beherbergt auch ihr Archiv, "für das mich die Stadt zur Ehrenbürgerin gemacht hat".

Sie kämpft gemeinsam mit anderen, doch mit der Angst ist sie allein: "Seit dem Brief heißt Wohnen: Nächte ohne Schlaf, Wellen von Angst. Phantasien von Vertreibung und Obdachlosigkeit geistern durch meine Träume. Ich, die ich so gut wie nie krank war, bin mit einem Mal dauernd krank." Sie kennt die Dritte Welt und will ihre Lage nicht dramatisieren, aber sie merkt, "dass eine Hälfte des Gehirns sich ständig mit der Bedrohung der Armut beschäftigt". Sie hat ihr Zeitungs-Abo gekündigt, kann sich gute Nahrung nicht mehr leisten: "Woche für Woche steige ich auf billigere Produkte um". Es stört sie nicht, sich im Second-Hand-Laden einzukleiden, aber dass nur alle drei Monate ein Buch drinsitzt, deprimiert sie: "Je ärmer ich im materiellen Sinn werde, umso mehr sehne ich mich nach Kultur."

Wenn sie als Rednerin eingeladen wird, zahlt man ihr ein ICE-Ticket, "zu Hause kann ich mir nicht mal die Busfahrkarte erlauben". Laden Freun- dinnen sie zum Essen ein, rechnet sie: "20 Euro - das bedeutet das Geld für sieben Tage." Für beide Seiten sei das unangenehm, und so habe sich manche Bekannte aus ihrem "Mittelschicht-Umfeld" zurückgezogen: "Wenn ich erzähle, kommt für sie die Armut näher als die in Afrika."

Nun soll sie eine angemessene Wohnung suchen, maximal 45 qm und 216 Euro Miete. 15 Jahre war ihre Wohnung angemessen: Sie hat das Haus bemalt, den Hof begrünt, Freunde bekocht; Lastwagen mit Kleidung und Lebensmitteln starteten von hier zum Balkan. Ellen Diederich fürchtet sich vor einem Umzug, vor "der Enteignung gelebten Lebens".

Quelle: WAZ vom 07.04.2006 Von Christina Wandt

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