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Die Mythen der Staatsverschuldung

In Deutschland gelten Staatsdefizite als Teufelszeug - aus Unverständnis der ökonomischen Logik.

In diesen Tagen kann man sich schon manchmal in den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" versetzt fühlen. Mit beängstigender Präzision wiederholt sich jedes halbe Jahr ein Ereignis, aus dem die Beteiligten keinen Ausweg zu finden scheinen: die Steuerschätzung. Regelmäßig, wenn im Mai und November die Schätzer zusammenkommen, ergibt sich ein neues Loch im Staatshaushalt, weil die Konjunktur schwächer ausfällt als ursprünglich prognostiziert. Und immer folgen vorhersehbar die Empfehlungen deutscher Ökonomen, doch gerade jetzt mehr zu sparen, um die Neuverschuldung zu begrenzen.

In der nächsten Szene gibt es dann eine öffentliche Debatte über den katastrophalen Zustand der deutschen Finanzen und den bevorstehenden Staatsbankrott. Leitartikler und Fernsehkommentatoren schließen sich den Forderungen der deutschen Mainstream-Ökonomie nach neuen Einsparungen an. Dann kommt der Schnitt - und ein halbes Jahr später geht das ganze Spiel von vorne los.

Beeindruckend ist nicht nur die fehlende Lernfähigkeit der Beteiligten, sondern auch, wie speziell deutsch sich die Debatte gestaltet. Während in den USA höhere Defizite zwar auch ein politisch brisantes Thema sind, fordert niemand bei schwächeren Steuereinnahmen gleich heftige Sparprogramme. In Deutschland befürchtet man dagegen immer gleich den Untergang des Abendlandes.

Fünf Mythen scheinen dabei in den Köpfen der Deutschen derart verankert, dass eine rationale Debatte um die Staatsdefizite derzeit kaum möglich scheint:

Mythos eins:

Eine höhere Neuverschuldung erhöht automatisch die Schuldenlast.

Dieser Satz erscheint den meisten Menschen so logisch, dass über ihn gar nicht mehr nachgedacht wird. Wenn man neue Schulden aufnimmt, steigt natürlich die Schuldenlast, oder etwa nicht? Tatsächlich ist für eine Volkswirtschaft nicht die Neuverschuldung an sich von Bedeutung, sondern das Verhältnis von Gesamtschuldenstand zur Wirtschaftsleistung. Wenn etwa die Wirtschaft um nominal vier Prozent wächst (zwei Prozent reales Wachstum und zwei Prozent Inflation), kann sich ein Land in alle Ewigkeit ein jährliches Haushaltsdefizit von 2,4 Prozent des BIP leisten, ohne dass die Schuldenquote steigt.

In all jenen Situationen, in denen höhere Defizite zu einem höheren Wachstum führen, als es ohne die Neuverschuldung der Fall wäre, kann eine Kreditaufnahme sogar langfristig die Schuldenlast senken. Derzeit könnte solch eine Situation sein: Wegen des hohen Ölpreises steht Deutschland am Rand der Rezession. Einige Ökonomen fürchten einen Absturz in die dauerhafte Stagnation. Neue Einsparungen könnten jetzt reichen, die Wirtschaft in diese Dauerkrise zu stoßen - und damit deutlich teurer werden als ein paar Milliarden Neuverschuldung.

Mythos zwei:

Defizite sind schlecht, weil Regierungen freiwillig nie sparen werden.

Tatsächlich hat die US-Regierung von 1993 bis 2000 die Schuldenquote ohne Stabilitätspakt oder Verfassungszwang um fast 20 Prozentpunkte gesenkt. Unter Rot-Grün fiel Ende der 90er Jahre die Schuldenquote, ebenso wie Ende der 80er Jahre unter Helmut Kohl.

Mythos drei:

Höhere Staatsschulden gehen immer auf Kosten künftiger Generationen.

Ob die höheren Staatsschulden für unsere Kinder und Enkel wirklich nachteilig sind, hängt von den Alternativen ab. Wenn etwa Ausgaben für Bildung, Forschung oder Investitionen in den Straßenbau gekürzt werden, damit die Staatsverschuldung nicht steigt, könnte dies ein Bärendienst sein. Die gesamtwirtschaftliche Rendite von Bildungsausgaben ist üblicherweise deutlich höher als die Zinsen, die der Staat auf seine Anleihen zahlen muss. Kaputte Straßen ziehen enorme Folgekosten in Form höherer Ausgaben für Kfz-Reparaturen und längerer Reise- und Lieferzeiten nach sich. Eine höchst profitable Investition in die Zukunft nicht zu tätigen, bloß weil man dafür (billigen) Kredit aufnehmen müsste, ist betriebswirtschaftlich wie volkswirtschaftlich Unfug. In den USA haben sogar die Bürger diese Logik verinnerlicht. Dort ist es ganz normal, für das Hochschulstudium hohe Kredite aufzunehmen - weil sich die Bildung später auszahlt.

Mythos vier:

Die deutsche Finanzpolitik wirkt mit ihren hohen Defiziten doch schon stark expansiv.

Weitere Schulden können die Konjunktur ohnehin nicht mehr ankurbeln. Tatsächlich sagt die absolute Höhe des Defizits wenig darüber aus, wie stark die Konjunktur gestützt oder gebremst wird. Dafür ist einzig der zusätzliche Impuls, also die Veränderung des konjunkturbereinigten Defizits relevant. Dieser bereinigte Fehlbetrag dürfte nach Prognose der EU-Kommission 2005 um 0,5 Prozent des BIP zurückgehen - die Finanzpolitik bremst also nach aktueller Planung das Wachstum bereits spürbar. Übrigens ist dieses Strukturdefizit seit 2001 praktisch nicht gestiegen. Während die Finanzpolitik in den USA so die Konjunktur in der Krise nach dem 11. September ankurbelte, kam vom deutschen Staat kein Impuls mehr.

Mythos fünf:

Wir können uns eine höhere Neuverschuldung einfach nicht mehr leisten.

Im internationalen und historischen Vergleich sind die deutschen Schulden längst nicht auf einem übermäßig hohen Niveau. Wir liegen derzeit unter den Werten in den USA in den 80er Jahren (siehe Grafik). Das Beispiel Japans seit Anfang der 90er Jahre zeigt zudem, dass für die Stabilität der Staatsfinanzen weniger hohe Defizite als eine lange Stagnation und fallende Preise gefährlich sind. Das Einzige, was sich Deutschland derzeit wirklich nicht leisten kann, ist ein Fall in die Deflation mit anhaltend stagnierender Wirtschaft - gerade das aber könnte mit einer rabiaten Sparpolitik herbeigeführt werden.

Das alles bedeutet nicht, dass höhere Staatsschulden grundsätzlich gut sind oder größere Defizite an sich schon wirtschaftliche Probleme lösen. Um aber zu beurteilen, welche Neuverschuldung Deutschland in Kauf nehmen sollte, sollte man sich besserer Argumente bedienen als irgendwelcher Mythen.

von Sebastian Dullien
Financial Times Deutschland vom 12.05.2005
http://www.ftd.de

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