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Sozialpolitik auf dem Irrweg

Barbara Stolterfoht, Vorsitzende des DPWV: Es ist ungerecht, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, wenn der Spitzensteuersatz gleichzeitig auf einem Tiefpunkt ist.


Noch nie gab es so viele arme Kinder in Deutschland. Noch nie war die Schere zwischen Arm und Reich so groß. Noch nie gab es so viele Arbeitslose und so viele Menschen in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Noch nie hatten Korruption und Bestechung ein solches Ausmaß erreicht. Der Zustand unseres Gemeinwesens gibt Anlass zur Sorge. Das Irritierende ist jedoch, dass dies besonders größere Teile unserer Eliten nicht zu stören scheint. Die einen rennen unverdrossen weiter gegen den Sozialstaat als angebliche Wurzel des Übels an. Die anderen pflegen ihren Egoismus und ihr Bankkonto.

Das die Bürger nicht reformbereit seien, darf man zu den modernen Märchen zählen. In den vergangenen Jahren hat der Gesetzgeber ein beachtliches Reformtempo vorgelegt. Viele Maßnahmen, die vor drei Jahren noch in den Kommissionen von Hartz und Rürup diskutiert wurden, sind heute längst umgesetzt. Die Bevölkerung wurde dabei zum Gegenstand eines Feldexperiments gemacht, an dem sie geduldig teilgenommen hat. Manche Maßnahmen - wie der "Job Floater" - sind Geschichte. Das Versprechen von mehr Arbeitsplätzen blieb dabei unerfüllt. Im Gegenteil: schon werden weitere drastische Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik angekündigt. Die Asymmetrie zwischen Fördern und Fordern ist offenkundig. Der Erwerbslose wird zum Objekt des Forderns.

Hartz IV hat keine Verelendung breiter Bevölkerungsschichten bewirkt, obwohl die Sozialhilfe wegen fehlender Anpassungen heute fast um ein Fünftel zu niedrig bemessen ist. Dennoch wurde der Gürtel der Mehrheit der Leistungsempfänger enger geschnallt. Wegen der Pauschalierung einmaliger Leistungen und der Abschaffung von Härtefallregelungen im Gesundheitsbereich werden gerade Familien mit Kindern und ältere Menschen deutlich sclechter gestellt. Das soziale Netz ist tiefre gehängt worden. Mit einer sanften Landung darin kann niemand mehr rechnen. Auch nach jahrzehntelanger Arbeit kann man binnen eines Jahres in Armut rutschen.

Der Mainstream der politischen Debatte sieht darin weiter den richtigen Weg. Wirtschaftliche Interessensgruppen haben die Gunst der Stunde genutzt, um mit kostspieligen Kampagnen zum radikalen Schlag gegen sozialstaatliche Interventionen auszuholen. Dabei sind es häufig die großem Wettbewerbstheoretiker, die als Erste Wallfahrten in die Staatskanzlei und Ministerbüros unternehmen, wenn sie um eigene Vorteile fürchten. Während solche Aufführungen auf der politischen Bühne tagtäglich wiederholt werden, scheint der Blick dafür verloren zu sein, dass der soziale Zusammenhalt unseres Gemeinwesens auf der Strecke zu bleiben droht. Die erschreckende Bilanz der zurückliegenden Sozialreformen kann man im Armuts- und Reichtumsbereicht der Regierung nachlesen - und auf den Straßen der Städte sehen. Selbst die wenigsten Abgeordneten wissen, dass mancher alte Mensch im Heim von 88 Euro Taschengeld Alle privaten Bedürfnisse einschließlich seiner Zuzahlung im Gesundheitswesen zahlen muss und 207 Euro der betrag ist, von dem ein Kind nach Hartz IV - alles inklusive - leben muss: im Monat.

Das die Wirtschaftselite sich über die Befindlichkeit der arbeitenden Bevölkerung Gedanken macht, ist bisher nicht bekannt geworden. Das Nachdenken darüber bleibt offenbar im Kreis der üblichen Verdächtigen. Stattdessen entdeckt man einen neue Lust an der Distinktion. Sich von anderen abzugrenzen und Empathie durch Egoismus zu ersetzen, wird zum Trend. "Die Kunst des stilvollen Verarmens" wird zum Manifest der neuen Dandys. Gleichzeitig findet das grauenvolle Wort vom "Parasiten" Eingang in eine Ministerbroschüre. Wenn die sozialen Gegensätze zu stark werden, steht der Zusammenhalt auf dem Spiel.

Zu den modernen Mythen zählt, dass ein Mehr an sozialem Ausgleich unmodern sei, ja die gesellschaftliche Wohlfahrt gefährde. Das Gegenteil ist der Fall. Die derzeit betriebene Kampagne über tatsächlichen oder angeblichen Sozialmißbrauch täuscht über die wahren Probleme hinweg. Wir haben einen Mangel an regulären Arbeitsmöglichkeiten und wir haben einen Sozialstaat, der auf Bedingungen beruht, die längst nicht mehr gegeben sind. Diesen beiden strukturellen Probleme kann man nicht begegnen, indem man nur das Leistungsniveau kürzt oder Missbrauch anprangert. Wo Missbrauch ist, muss er bekämpft werden. Mann sollte sich jedoch keine Illusionen über mögliche Einsparungen machen. Wichtiger ist, dass das Geld künftig besser auf die verteilt wird, die es wirklich brauchen.

Der konservative deutsche Sozialstaat zielt immer noch auf Statussicherung des männlichen Normalarbeitnehmers in Normalfamilien. Die Leistungen für die nicht erwerbstätigen Frauen, Alten, Kinder sind häufig unzureichend. An anderer Stelle werden Finanztransfers mit der Gießkanne getätigt. So profitieren die Leistungsfähigen vom sozialen Ausgleich im Steuersystem überproportional. Wer keine Steuern zahlt, geht hier leer aus. Wir brauchen deshalb ein Mehr an Statusorientierung bei der Bemessung der Sozialleistungen, ohne dabei zum neoliberalen Grundsicherungsstaat zu werden. Das Prinzip der Leistungsverteilung im Sozialstaat muss künftig das Finalitätsprinzip sein. Staatliche Transfers müssen an den gegenwärtigen Lebenslagen der Betroffenen anknüpfen und auf die Überwindung der sozialen Probleme gerichtet sein. So ist es völlig unsinnig, einem Spitzenverdiener noch über dem Kindergeld liegende Steuerprivilegien zuzugestehen, während das Kindergeld gleichzeitig vollständig auf die Sozialhilfe angerechnet wird. Es ist keine Quadratur des Kreises, die Kluft zwischen Arm und Reich mit weinger geld zu verringern. Derzeit fehlt der Wille dazu.

Angeblich ist das gegenwärtige Sozialleistungsniveau nicht zu halten. Die Frage nach der Ausgestaltung des Leistungssystems ist aber erst in zweiter Linie eine Frage der Finanzierung, zuvorderst ist es eine Frage der politischen Prioritätensetzung. Es gibt keine Sachzwang, die Eigenheime derer, die sich welche leisten können, zu subventionieren, während 21,7 Mio Kinder in Armut leben. Es gibt keine Notwendigkeit, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, wenn man den Spitzensteuersatz gleichzeitig auf einen neuen Tiefpunkt gesenkt hat. IN allen Fällen haben wir es mit Wertentscheidungen zu tun. Die Politik liebt die Berufung auf das Soziale, aber sie lebt sie nicht. Diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit muss verringert werden.

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 5./6.11.2005

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