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Leben aus der Mülltonne

In Deutschland sind 2,6 Millionen Kinder in Not – Tendenz steigend. Obwohl das verheerende Folgen für die Zukunft hat, entwickelt die Politik keine Gegenstrategie.

Jamal Malik ist zwar jung und schön, besorgt sich sein Essen aber auf den Müllkippen von Bombay. Dank seines Sieg in einer Fernsehrateshow wird er zum Rupien-Millionär und erobert seine große Liebe Latika. Acht Oscars räumte „Slumdog Millionaire“, der Wohlfühl-Film des britischen Regisseurs Danny Boyle, vor kurzem in Los Angeles ab. 200 Millionen Dollar spielte der rasante Bollywood-Film über das schlaueste Slumkind der Welt bereits ein. Die Zuschauer sind weltweit begeistert, das Mitgefühl ist groß, und die Inder wissen nicht so recht, ob sie das Kinderarmut-Epos gut oder schlecht finden sollen. Für die Deutschen gilt: Das Interesse am Thema ist riesig, vor allem wenn die Bilder stimmen, das Happy End den Appell ans eigene Wohlstandsgewissen verstummen lässt und der Schauplatz weit entfernt liegt.

Marion H. ist jung, weder schön noch schlau und ein „Mülltonnenfresser“ in Köln-Höhenberg. Das jedenfalls brüllte der Nachbarjunge über den Kirchhof, als er die Zwölfjährige in der Schlange für die Essensausgabe der Sankt-Theodor-Gemeinde entdeckte. Dort wartete sie, gemeinsam mit 600 anderen Menschen – meist Rentner, Obdachlose und Alleinerziehende –, um für ihre arbeitslose Mutter und die drei jüngeren Geschwister eine Tüte mit Nudeln, Brot und Frischware zu ergattern. Unwahrscheinlich, dass von den Bedürftigen mal jemand auf dem Kandidatenstuhl bei „Wer wird Millionär“ sitzen wird. Marion bestimmt nicht. Sie hat den Zug zum Erfolg bereits in der Grundschule verpasst. So wie die meisten Kinder, die in der sogenannten Unterschicht groß werden.

Verlierer der Wirtschaftskrise

Kinderarmut als Phänomen der Entwicklungsländer war gestern. Heute leben bereits 2,6 Millionen Kinder in Deutschland in Armut. Sie sind die wahren Verlierer der Weltwirtschaftskrise. In zwanzig Jahren könnte jedes zweite Kind mitten unter uns in Armut aufwachsen. Davon jedenfalls geht der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, aus, zumal in den besseren Kreisen immer weniger und in den ärmeren Familien immer mehr Kinder geboren werden.

Trifft ein, was Hilgers voraussagt, bricht der Ast, auf dem wir sitzen, in naher Zukunft durch. Denn Kinderarmut hat spürbare, negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder: für die Gesundheit, die seelische Stabilität, die geistige Auffassungsgabe und die sozialen Fähigkeiten – sprich für alle Grundvoraussetzungen späteren Erfolgs. Schon jetzt ist klar: Die „Bildungsrepublik Deutschland“, die Bundeskanzlerin Merkel ausgerufen hat, wird ein topografischer Flickenteppich von München-Bogenhausen bis Hamburg-Blankenese. Die Kinder aus den Vierteln mit den miesen Sozialdaten werden sie nicht bevölkern. Der aktuelle Berliner Sozialatlas besagt: In manchen Vierteln der Hauptstadt leben 75 Prozent der Kinder von Hartz IV.

Zwischen Bombay und Köln liegen elf Flugstunden. Doch wenn man das Interesse für die Kinderarmut an beiden Orten zusammennimmt, ist die Entfernung noch um einiges größer. Kinderarmut ist nur sexy, wenn die Musik fetzt. Der dramatische Appell von Deutschlands oberstem Kinderschützer löste kein Rauschen im Blätterwald aus. Und das, obwohl die ökonomischen Folgen schon in absehbarer Zeit verheerend sein werden. Kinderarmut in einem reichen Land – das ist ein Thema, das alle Bürger, vor allem aber die Politiker in Bund, Ländern und Kommunen aus den Sesseln heben sollte. Tut es aber nicht. Woran liegt das?

Armut ist in Deutschland immer noch schuldbehaftet. Will heißen: Wer arm ist, hat sich nicht genug angestrengt. „Bill Clinton hat’s doch auch geschafft“, sagte einmal ein hoher Regierungsbeamter zu mir. Der Kommentar fiel unter vier Augen. In einem öffentlichen Gespräch hätte sich der erfolgreiche Familienvater sicher auf die Zunge gebissen, zumal seine Kinder auf die richtigen Schulen gehen. Also nicht in Wedding oder in Teilen des Ruhrgebiets, wo die Schulen bei einem Ausländeranteil von 95 Prozent Kinder aus 30 Nationen in derselben Klasse auf die zentralen Leistungstests in Mathe und Deutsch vorbereiten, bei denen wundersamerweise immer die Kinder aus den besseren Vierteln als Sieger durchs Ziel gehen.

Weit und breit nur Stückwerk

Es gibt in Deutschland keine politische Partei, die nicht die Bekämpfung der Kinderarmut auf ihre Fahnen geschrieben hätte. Doch ein Blick in die Bilanzen und den Bauplan des Konjunkturpakets zeigt: Die gezielten Maßnahmen gegen die seit Jahren wachsende Kinderarmut sind Stückwerk, keine konzertierte Aktion im Interesse unser aller Zukunft. Seit dem Zusammenbruch der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers herrscht in der Großen Koalition eine merkwürdige Gedankenarmut, was gezielte Maßnahmen gegen die Kinderarmut und ihre Folgen angeht. Die Sanierung der Turnhallen und Schulgebäude wird jedenfalls an der Lage nichts ändern.

Dabei wissen alle in Regierung und der Opposition: Wenn die heutigen Grundschüler ins Berufsleben starten und als Beitragszahler unser Transfersystem leistungsfähig halten, dann brauchen sie angesichts der ererbten Rekordverschuldung und der wachsenden Rentnerzahl jeden Mann und jede Frau ihrer Generation. De facto wird aber mindestens ein Fünftel und schlimmstenfalls ein Drittel ihrer Altersgruppe von der Schulbank als Dauergast in die sozialen Transfersysteme geschickt werden.

Ob es dann zu einem Aufstand der Abgehängten kommt? In diesen Stiefkindern der deutschen Sozialpolitik die Handtaschenräuber von morgen zu sehen, ist nicht ungefährlich. Denn die Stigmatisierung der Kinder und die Berührungsängste der Mehrheitsgesellschaft sind schon groß genug und vielleicht ein Grund dafür, warum sich – trotz wachsenden Engagements der Zivilgesellschaft – zu wenig bewegt.

Quelle: Rheinischer Merkur vom 09.04.09

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