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Agenda 2010 und die sozialen Sicherungssysteme

Referat von Daniel Kreutz zur Gründungsveranstaltung des Sozialforum Dortmund am 09.10.2003: Hartz, Agenda 2010 etc. - der Um-/Abbau der Infrastrukturen sozialer Sicherung ist ein gesellschaftspolitischer Systemwechsel.

(Daniel Kreutz ist Mitglied der Koordinierungsgruppe "Buendnis Soziale Bewegung NRW" und Referent fuer Sozialpolitik beim Sozialverband Deutschland e.V. (SoVD), Landesverband NRW )

Ich bin gebeten worden, hier etwas vorzutragen zum Komplex Sozialabbau / Agenda 2010. Allerdings reicht der gewohnte Begriff „Sozialabbau", der manchen von uns wohl schon seit über 20 Jahren vertraut ist, längst nicht mehr aus, um das zu charakterisieren, was mit dem Sozialstaat in Deutschland und mit dem westeuropäischen Wohlfahrtsstaat passiert.

Was wir erleben – und was mit der Agenda 2010 auf breiter Front vorangetrieben wird – ist nicht mehr Sozialabbau im Sozialstaat, sondern ein regelrechter gesellschaftspolitischer Systemwechsel – weg vom Sozialstaat und hin zu einer Art „Wettbewerbsstaat“, der einseitig den Interessen der Arbeitgeber und der wirtschaftlich Starken in unserer Gesellschaft verpflichtet ist. Denn die Grundzüge der sogenannten „Modernisierung“ unserer Sozialsysteme sind immer die gleichen:

Wir haben zum einen eine Verschiebung der Finanzierungslasten nach unten und eine schrittweise Privatisierung sozialer Lebensrisiken, die der Sozialstaat auf der Grundlage einer solidarischen Lastenteilung zwischen Kapital und Arbeit – nämlich in Gestalt der paritätisch finanzierten Sozialversicherung - angemessen und verlässlich absichern sollte, damit die Geltung der Grundrechte für die wirtschaftlich Schwächeren nicht in Frage gestellt werde. "Mehr Eigenverantwortung" ist die Parole – so als würden die Versicherten nicht schon von jeher mit ihren Beiträgen maßgebliche Verantwortung für die Finanzierung der Sozialversicherung tragen

Zum anderen haben wir unter dem Schlagwort "mehr Wettbewerb" einen schrittweisen Umbau der sozialen Infrastrukturen und der Infrastrukturen der oeffentlichen Daseinsvorsorge nach dem Vorbild normaler Wettbewerbsmaerkte, auf denen die Erwirtschaftung von Renditen zur vorrangigen Aufgabe der Einrichtungen wird, und die deshalb auch als Anlagefeld privaten Kapitals interessant werden. Bei Krankenhäusern, bei Pflegeeinrichtungen und bei den Trägern von arbeitsmarktpolitischen Hilfen ist das schon weit vorangeschritten.

Die Rolle von „König Kunde“ fällt auf solchen Märkten in der Regel nicht etwa denen zu, die auf die Leistungen angewiesen sind, sondern wie immer am Markt dem, der bezahlt. Und das sind hier in erster Linie die großen Kostenträger, also die Sozialversicherungsträger und die Kommunen als Träger der Sozialhilfe. Die Stellung der betroffenen Menschen nähert sich dabei eher der eines Rohstoffs, mit dessen Verarbeitung das Geschäft gemacht wird.

Was war der verteilungspolitische Auftrag des Sozialstaats? Es klingt in heutiger Zeit fast unerhört, aber der Auftrag war Umverteilung von oben nach unten. Umverteilung von oben nach unten sollte sicher stellen, dass sich die wirtschaftlich Starken in unserer Gesellschaft entsprechend des Verfassungsgrundsatzes von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums angemessen an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben im Interesse der Allgemeinheit beteiligen und die Lasten der Schwachen mit tragen.

Unmittelbarer Ausfluss des Sozialpflichtigkeitsgebotes ist in der Sozialversicherung der **Grundsatz der paritätischen Finanzierung**, wonach die Kapitalseite zur Hälfte für die Absicherung der großen Lebensrisiken zuständig ist. Und nicht zufällig richten sich die neoliberal inspirierten Reformen mit besonderer Vehemenz gegen den Grundsatz der paritätischen Finanzierung.

In der Pflegeversicherung ist dieser Grundsatz sowieso schon aufgehoben, weil die ja faktisch einseitig von den Versicherten bezahlt wird. In der gesetzlichen Rentenversicherung wurde mit der Riester’schen Rentenreform ein erster Teil aus der Parität herausgebrochen und einseitig in die Privatvorsorge der Versicherten geschoben. Für die neue Rentenreform im Rahmen der Agenda 2010 gibt es noch keinen Gesetzentwurf. Aber wir haben eine politische Weichenstellung auf die Fortsetzung dieses Privatisierungskurses auf Basis der Vorschläge der Rürup-Kommission.

Das gesetzliche Rentenniveau soll mit einem neuen Kürzungsfaktor schneller und tiefer abgesenkt werden, so dass die Rente sich schließlich in der Regel kaum noch über dem Sozialhilfeniveau bewegen wird. Wer sich dass leisten kann, muss den Ausfall über Privatvorsorge kompensieren und damit die Finanzmärkte füttern. Wer das nicht kann, geht einer neuen Altersarmut entgegen. Zugleich soll die Lebensarbeitszeit steigen. Wenn aber die Älteren länger arbeiten, dann sinken die Chancen für junge Leute, einen Arbeitsplatz zu finden.

Die aktuelle Gesundheitsreform im Rahmen der Agenda 2010 treibt den Bruch mit der paritätischen Finanzierung auch im Bereich der Krankenversicherung voran. Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen steigern die Belastungen der Kranken. Zahnersatz und Krankengeld soll künftig allein von den Versicherten bezahlt werden. Bis zum Jahr 2007 soll der Arbeitnehmerbeitrag auf rund sieben Prozent steigen, während der Arbeitgeberbeitrag auf rund sechs Prozent sinkt. So wird die langjährige Forderung der Arbeitgeberverbände erfüllt, den Arbeitsgeberbeitrag auf sechs Prozent zu begrenzen.

Die Diskussion um Buergerversicherung oder Kopfpraemien geht darum, wie diese Entwicklung nach 2007 fortgesetzt werden soll. Auch die Bürgerversicherung wird in der Politik als ein Instrument gesehen, um die Lastenverschiebung zu Gunsten der Arbeitgeber fortzusetzen – zwar nicht radikal wie mit den Kopfprämien, dafür aber wohl deutlich praktikabler. In soweit trügt der Eindruck, dass da eine Neubelebung des Solidargedankens in Reichweite wäre. Allerdings ist es möglich, den Begriff „Bürgerversicherung“ konzeptionell auch so zu füllen, dass daraus eine soziale Alternative werden kann. Aber das wird nicht aus der Politik kommen.

Der Bereich der Arbeitslosenversicherung und der staatlichen Arbeitsmarktpolitik nimmt mit den Hartz-Reformen – jetzt kommen ja Hartz III und Hartz IV - gleichsam einen Spitzenplatz im Systemwechsel ein. Die Grundsatzbotschaft des Staates, die sich mit der Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds und der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe zu Gunsten der "Grundsicherung bei Erwerbslosigkeit" (Arbeitslosengeld II) auf Sozialhilfeniveau verbindet, lautet: Egal, welchen Beruf und welche Qualifikation Du hast, egal, was Du vorher verdient hast, egal, welchen Lebensstandard Du Dir erarbeitet hast - nach 12 Monaten Erwerbslosigkeit hast Du nur noch Anspruch auf Armut - und den auch nur dann, wenn Du bereit bist, mit der so genannten Eingliederungsvereinbarung Dein Leben unter amtliche Vormundschaft zu stellen und auch den miesesten Job anzunehmen.

Nach meinem Empfinden verletzt das nicht nur die Grundrechte auf Selbstbestimmung und Berufswahlfreiheit, sondern auch das Grundrecht auf Menschenwürde – denn Armut verletzt die Menschenwuerde. Wie der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes öffentlich dargelegt hat, trifft das besonders eine halbe Million Kinder, die durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe zusätzlich in Armut gedrückt werden und denen mit den Regelungen der so genannten "Grundsicherung bei Erwerbslosigkeit" Verwahrlosung droht.

Aufgabe der sozialstaatlichen Arbeitslosenversicherung war es, die Arbeitnehmerschaft durch eine ausreichende Absicherung davor zu schützen, dass Arbeitgeber die Notlage der Erwerbslosigkeit zur Verschlechterung von Arbeits- und Entgeltbedingungen ausnützen. Damit leistete die Arbeitslosenversicherung einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung einer sozial regulierten Erwerbsgesellschaft, in der die abhängig Beschäftigten nicht bloß Waren sind, sondern auch Menschen.

Mit den Hartz-Reformen verwandelt sich die Funktion staatlicher Arbeitsmarktpolitik ins Gegenteil: in ein Instrument, um Erwerbslose mit Sanktionsdrohungen in prekaere Billig-Jobs zu druecken und den Niedriglohnbereich so auszuweiten, dass er schließlich auch das Tarifsystem ins Rutschen bringt. Nach den Hartz-Reformen kann von "Absicherung" des Risikos der Erwerbslosigkeit keine Rede mehr sein. Der lohnabhängige Mensch wird in bislang unbekanntem Umfang den Risiken eines "freien" Arbeitsmarktes ausgesetzt, während der Staat sich von der Bekämpfung der Erwerbslosigkeit auf die Bekämpfung der Erwerbslosen verlegt.

Das trifft nicht die Erwerbslosen allein, sondern auch die Beschaeftigten. Je tiefer sich vor den Beschäftigten der Abgrund der Erwerbslosigkeit mit den Mühlen der aktivierenden Politik öffnet, um so mehr sinkt normalerweise die Bereitschaft, zur Verteidigung eigener Rechte etwas zu riskieren. Das fördert die Ausbreitung von Untertanengeist. Die Agenda-Reform zur Lockerung des Kuendigungsschutzes sorgt dafür, dass diese Wirkung sich noch besser entfalten kann.

Im Schlepptau von Hartz IV kommt eine Generalreform der Sozialhilfe, die mit weiteren Leistungsverschlechterungen, insbesondere im Wege unzureichender Pauschalierungen, die Armut vergrößern wird.

George Orwell, der große Schriftsteller und Entdecker der „newspeak“ oder „Neusprech“, wäre vor Neid erblasst, hätte er gewusst, dass man den Rückfall ins 19. Jahrhundert, den man da organisiert, doch tatsächlich „Modernisierung“ nennt.

In der gleichen Weise ist da von „Generationengerechtigkeit“ zu Gunsten der Jüngeren die Rede, obwohl es doch gerade die Jungen sind, die künftig doppelt und dreifach die Zeche dieser Reformen zu bezahlen haben werden.

Das entscheidend Neue an unserer Lage, an der Lage all derer, die sich der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlen und die auf einen leistungsfähigen Sozialstaat angewiesen sind, ist aber, dass wir zur Kenntnis zu nehmen haben, dass wir auf parlamentarischer Ebene keine Kraefte mehr vorfinden, von denen wir mit Aussicht auf Erfolg erwarten koennten, dass sie einen sozialen Richtungswechsel in der Politik herbeifuehren. Die Parteien wetteifern nur noch um Methoden, um Tempo und Radikalität von Reformen, deren Richtung allemal die gleiche bleibt. Lauterbach, Rürup und Herzog ziehen da am gleichen Ende des Strangs.

Man sagt uns, es gebe dazu keine Alternative. Und man verweist zur Begründung auf angebliche Sachzwänge, deren Nichtbefolgung noch weitaus verheerendere Folgen habe. Die Arbeitskosten und insbesondere die Lohnnebenkosten seien zu hoch und erstickten die wirtschaftliche Dynamik; das Gesundheitswesen leide an einer Kostenexplosion; und vor allem zwinge die demografische Entwicklung zu einschneidenden Strukturveränderungen, um einen Kollaps noch abwenden zu können.

Wenn man die Chance hat, sich näher mit den Dingen zu befassen, dann kann man unschwer feststellen, das eher das Gegenteil dessen richtig ist, was da behauptet wird. Die Reformpolitik von Neoliberalismus und Neuer Mitte fördert nicht wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung, sondern sie vertieft im Gegenteil die oekonomischen Probleme. Über 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Mitte des Jahres in einem Aufruf gegen die Agenda 2010 nochmals eindringlich darauf hingewiesen.

Die Diskussion um die alternativlosen Sachzwänge hat vor allem die Funktion, vor der Öffentlichkeit den banalen – ja erschreckend primitiven – Kern dessen zu verbergen, um was es da geht: nämlich um Umverteilung nach oben und Lastenverschiebung nach unten. Das Sozialpflichtigkeitsgebot des Grundgesetzes ist gleichsam auf den Kopf gestellt.

Der Leitgedanke sozialer Alternativen ist dagegen, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ernst zu nehmen und sie zur Grundlage von mutigen Reformen zu machen. Es muss darum gehen, die Wirtschaft und die wirtschaftlich Starken in angemessenem Umfang zur Finanzierung unseres Gemeinwesens und unserer sozialen Sicherung heranzuziehen. Nur in dieser Richtung ist auch eine Perspektive zur Rückgewinnung sozialpolitischer Gestaltungsfähigkeit für unsere Kommunen und Länder erkennbar.

Es geht nicht mehr nur um dieses und jenes, sondern es geht um die Frage, in welcher Sorte Staat und Gesellschaft wir künftig leben wollen. In der gegenwärtigen Lage bleibt uns keine Alternative mehr zu dem Versuch, mit Hilfe einer breiten Bewegung buergerschaftlichen Engagements von unten fuer einen sozialen Richtungswechsel zu streiten. Dass dieser Versuch nicht ohne Chance ist, das zeigen auch die Meinungsumfragen, die große Mehrheiten gegen die unsozialen Reformen zu Tage gefördert haben. Wir brauchen eine Bewegung von Bürgerinitiativen für Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit, die deutlich macht, dass Alternativen möglich sind, und über die nicht mehr einfach hinwegregiert werden kann.

Um dazu beizutragen, hat sich auf Landesebene das Buendnis Soziale Bewegung NRW gebildet, an dem unter anderem einige Gewerkschaften, die beiden Sozialverbände, die globalisierungskritische Bewegung von attac, konfessionelle Arbeitnehmerverbände und kirchliche Strukturen beteiligt sind. Wir bemühen uns da vorerst vorrangig darum, den Aufbau von örtlichen Bündnis-Initiativen zu ermutigen und zu unterstützen. Wir müssen uns organisieren, um in den Stadtteilen und Wohnvierteln, in den Betrieben, in der lokalen Öffentlichkeit für Aufklärung zu sorgen und für Alternativen zu werben. Dazu sind wir darauf angewiesen, über die Grenzen von Weltanschauungen, Organisationstraditionen und politischen Kulturen hinweg zu solidarischer Zusammenarbeit für unsere gemeinsamen Ziele zu finden, wo immer wir auch herkommen.

Dabei greift das Bündnis Soziale Bewegung NRW gern die Idee der Sozialforen auf, die ausgehend vom Weltsozialforum in Porto Allegre ueber das Europaeische Sozialforum jetzt auch die Städte in Deutschland erreicht, um für Alternativen zur neoliberalen Globalisierung zu streiten. Wir hoffen sehr, dass das Dortmunder Sozialforum eine Plattform wird für alle in dieser Stadt, die bereit sind, aus der Zuschauerdemokratie herauszutreten und sich selber einzumischen, damit in Deutschland und in Europa neue Perspektiven für Solidarität und soziale Gerechtigkeit eröffnet werden können.

Wir müssen uns in der Gegenwehr gegen die Agenda 2010 neu aufstellen, um unsere Chancen in den Auseinandersetzungen von morgen und übermorgen zu erhöhen. Denn wir wissen: für die Protagonisten des Systemwechsels weg vom Sozialstaat in Wirtschaft und Politik sind die Agenda-Reformen nur ein Anfang, der rasch ausgebaut werden soll.

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