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Ein Jahr "Agenda 2010"

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Der Katalog der Grausamkeiten ... und was inzwischen aus ihm geworden ist. --- Bericht von Robert Jacobi in "Süddeutsche Zeitung", 13./14. März 2004

Vor einem Jahr stellte Gerhard Schröder die “Agenda 2010" vor

Manchen Sozialdemokraten fröstelt es noch heute, wenn er an jenen sonnigen Freitagmorgen zurückdenkt. Emotionslos und kühl trug Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 die wohl wichtigste Rede seiner Amtszeit vor - eine Rede, die das Zerwürfnis mit den Gewerkschaften verursachte, eine monatelange parteiinterne Reformdebatte auslöste und letztlich dazu führte, dass Schröder in einer Woche den Parteivorsitz an Franz Müntefering abgibt. Die “Agenda 2010" werde helfen, “Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu sichern und die Grundwerte unseres Gemeinwesens zu stärken", sagte der Kanzler damals.

Bis zuletzt wussten selbst führende Koalitionsabgeordnete nicht, was der Kanzler zu heiklen Themen wie der Tarifautonomie oder der Gesundheitsreform sagen würde. Viele waren entsetzt darüber, was ihnen dann zugemutet wurde. Der Beifall blieb verhalten, schon kurz darauf machte auf den Fluren des Reichstags das Wort vom Sozialabbau die Runde. An diesem Sonntag jährt sich die Rede. Was ist aus den Vorgaben des Kanzlers geworden?

Sozialversicherung:
"Es wird nötig sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen."
> Dieser Satz ist die Grundlage jener Rentenreform, die der Bundestag diese Woche beschlossen hat. Die Nullrunde erwähnte Schröder nicht, er forderte aber die damals noch tagende Rürup-Kommission auf, die Rentenformel anzupassen. Daraus entstand der Nachhaltigkeitsfaktor, der ab dem kommenden Jahr den Anstieg der Rentenzahlungen verringern soll. Die Reformkritiker setzten eine Untergrenze durch. Faktisch sinken die Renten aber schon in diesem Jahr. Das Gesetz sieht vor, den Rentenbeitrag bis zum Jahr 2030 trotz der alternden Bevölkerung unter 22 Prozent zu halten. Um Frühverrentung zu verhindern, verkürzte die Koalition, wie von Schröder angekündigt, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere auf eineinhalb Jahre.<dd>
Gesundheit:
"Wir werden Änderungen im Sinne der Patienten durchsetzen, auch wenn das deutsche Gesundheitssystem verkrustet und vermachtet ist. (. . ..) Wir werden den Leistungskatalog überarbeiten und Leistungen streichen."
> Vier Monate später verständigten sich Regierung und Opposition auf ein Reformpaket - mit der umstrittenen Praxisgebühr. Das Krankengeld wurde nicht wie angekündigt aus der gesetzlichen Versicherung ausgegliedert; künftig sollen aber nur die Arbeitnehmer dafür zahlen. Der Zahnersatz wird entgegen den Plänen des Kanzlers privatisiert. Monopolstrukturen bei den Kassenärzten wurden nicht zerschlagen. Die Kassenbeiträge liegen meist über 13 Prozent.<dd>
Arbeitslosen- und Sozialhilfe:
"Wir werden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen. Und zwar auf einer Höhe, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entspricht."
Diese Reform ist von 2004 auf 2005 verschoben. In Sozialämtern und Arbeitsämtern wird auch dieser Termin in Frage gestellt. Das neue Arbeitslosengeld II liegt grundsätzlich zwar auf Sozialhilfeniveau, es gibt aber befristete Zuschläge. Empfänger dürfen etwas mehr selbst verdientes Geld behalten. Streit gibt es derzeit um das mit der Opposition vereinbarte Wahlrecht der Kommunen, die Langzeitarbeitslosen selbst zu betreuen.
Zumutbarkeit:
"Wer zumutbare Arbeit ablehnt, der wird mit Sanktionen rechnen müssen."
> Langzeitarbeitslose müssen ab dem kommenden Jahr jede zumutbare Arbeit annehmen, andernfalls wird die Hilfe gekürzt. Die Reformkritiker setzten zwischenzeitlich ein Mindestniveau beim zumutbaren Lohn durch, das die Union im Bundesrat aber verhinderte.<dd>
Kündigungsschutz:
"Wir müssen den Kündigungsschutz besser handhabbar machen."
> Auf Drängen der Opposition wurde die Schwelle, ab der in Kleinbetrieben der Kündigungsschutz gilt, von fünf auf zehn Mitarbeiter zu erhöht. Betriebsbedingte Kündigungen wurden erleichtert, da bei der Sozialauswahl nur noch vier Kriterien gelten, darunter Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflicht.<dd>
Tarifautonomie:
"Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber handeln."
> Diese Drohung machte Schröder nicht wahr. Die Tarifpartner in der Metallindustrie vereinbarten in diesem Jahr, Abkommen auf Betriebsebene zu erleichtern. Die Gewerkschaften behalten ein Vetorecht.<dd>
Ausbildungsplätze:
"Jeder Ausbildungsplatzsuchende muss einen Ausbildungsplatz bekommen! Ich erwarte, dass die Wirtschaft diese Zusage einhält. Wenn nicht, werden wir im Laufe des nächsten Jahres zu einer gesetzlichen Regelung kommen müssen."
> Auf Drängen der Parteilinken hat Schröder einer Ausbildungsumlage zugestimmt. Das Vorhaben ist kompliziert, weil der Bundesrat umgangen werden muss. Noch gibt es keinen Entwurf.<dd>
Bildung:
"Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung, die die pädagogischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt."
> Nach langem Gezerre mit ihren Länderkollegen hat Bildungsministerin Edelgard Bulmahn ein Programm aufgelegt, das den Bau von Ganztagsschulen von 2003 bis 2007 mit vier Milliarden Euro fördert. Mit einem Zuschuss von 1,5 Milliarden Euro sollen die Kommunen die Ganztagsbetreuung von Kindern unter drei Jahren ausbauen.<dd>
Bürokratieabbau:
"Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetriebe radikal vereinfachen, die Buchführungspflichten reduzieren und die Steuerbelastung kräftig senken."
> Einzelne Maßnahmen sind umgesetzt, ein Gesamtkonzept zum Bürokratieabbau fehlt.<dd>
Handwerksreform:
"Das Handwerksrecht werden wir modernisieren und verschlanken, damit es im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt."
> In 53 von 94 Handwerksberufen gilt der Meisterzwang nicht mehr. Die meisten traditionellen Berufe bleiben aber geschützt. Langjährige Gesellen dürfen Betriebe übernehmen. Einfache Tätigkeiten sind zulassungsfrei.<dd>
Gemeindefinanzen:
"Die Bundesregierung sieht die schwierige Lage der Gemeinden. Gemeinsam mit den Bundesländern wird sie deshalb ihren finanziellen Spielraum nachhaltig erweitern."
> Die Gemeindefinanzreform ist vorerst gescheitert. Immerhin bekommen die Kommunen durch einen höheren Anteil an der Gewerbesteuer rund 2,5 Milliarden Euro. Noch einmal diese Summe soll ihnen die Sozialreform bringen. In den Rathäusern gilt aber als unwahrscheinlich, dass diese Entlastung kommt. Viele Städte befürchten sogar höhere Kosten. Ein Programm mit verbilligten Krediten fördert Investitionen der Kommunen.<dd>
Steuerreform:
"Wir werden die nächsten Stufen der Steuerreform ohne Abstriche umsetzen."
> Für das Zusammenlegen der beiden für 2004 und 2005 geplanten Stufen entschied Schröder sich auf öffentlichen Druck hin erst im Frühsommer. Im Vermittlungsausschuss setzte der Kanzler dann die Entlastung um rund 15 Milliarden Euro nur zur Hälfte durch. Der zweite Teil folgt zum Jahresbeginn 2005.<dd>
Kapitalbesteuerung:
"Wir werden die Abgeltungssteuer einführen und es ermöglichen, im Ausland angelegte Gelder straffrei zurückzutransferieren." Eine begrenzte Steueramnestie gilt seit Jahresbeginn. Die Abgeltungssteuer kommt dagegen voraussichtlich nicht.
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