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Polizei will die Massenfestnahmen nun rechtfertigen

Gut fünf Monate nach G-8-Protesten werden 1000 Verfahren eingestellt. Dafür werden 500 neue eröffnet. Ein Gespräch mit Dieter Rahmann. Außerdem ein indymedia-bericht über die Verurteilung eines weiteren G8-Demonstranten.

Dieter Rahmann ist Mitglied der Antirepressionsgruppe in Rostock

Das Justizministerium in Schwerin hat angekündigt, 1000 der 1146 Strafverfahren gegen G-8-Gegner einzustellen. Das ist doch für eine Justizbehörde ziemlich peinlich. Wie erklären Sie sich, daß die Justiz an den Anklagen nicht festgehalten hat?

Die Polizei hat von Anfang an nicht beabsichtigt, alle Verfahren zu gewinnen, sondern sie wollte die Protestszene unter Druck setzen. Außerdem konnte sie damit rechnen, daß viele Leute nicht den Streß auf sich nehmen würden, zu Gerichtsverhandlungen nach Rostock zu fahren und möglicherweise auf Anwaltskosten sitzenzubleiben, sondern einfach die verhängten Bußgelder von 50 oder 100 Euro bezahlt haben. Damit gilt ein Strafverfahren bereits als abgeschlossen und gewonnen und taucht als solches in der Statistik auf. Die für den G-8-Einsatz gebildete Polizei-Sondereinheit Kavala hat das Problem, daß sie während des Gipfels Anfang Juni rund um Heiligendamm über 1 000 Leute festgenommen hat. Im Nachhinein will sie die Massenfestnahmen rechtfertigen, hat aber keine Argumente dafür. Es ist gerichtlich bestätigt, daß diese rein präventiv durchgeführten Freiheitsentzüge rechtswidrig waren.

Das Justizministerium will 500 weitere Verfahren einleiten. Woher kommen diese neuen Fälle plötzlich?

Seit dem 1. August wertet die Polizei ihre Videos aus. Anhand der Aufnahmen sollen den Demoteilnehmern weitere Straftaten angedichtet werden. Wenn die Polizei darauf jemanden erkennt, der bei der Demonstration ein Halstuch dabei hatte, gibt es einen Strafbefehl wegen Vermummung. Die Auswertung wird sich noch ein bis zwei Monate hinziehen, könnte aber einige neue Strafverfahren in Gang setzen.

Lohnt sich der ganze Aufwand für die Justiz überhaupt?

Die Justiz hat in der Öffentlichkeit einen schweren Stand damit, ihre Politik der Repression zu rechtfertigen. Sie muß jeden Strohhalm greifen, der eine Legitimation für den massiven Polizeieinsatz während der Protesttage bieten könnte. Und wenn es noch so hanebüchene Vorwürfe gegen die Demonstranten sind.

Wie viele Gipfelgegner wurden bis jetzt verurteilt?

Es gab meines Wissens erst vier oder fünf Urteile im Rahmen von Prozessen. Das härteste Urteil wurde vorige Woche verhängt: Eine Frau bekam elf Monate Haft wegen eines Steinwurfs in Richtung Polizei, der aber keinen Polizisten getroffen hat. Der Vorwurf lautete »schwerer Landfriedensbruch in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung«. In einem anderen Fall gab es eine Bewährungsstrafe von acht Monaten. Alles andere hat bislang nicht zu Haftstrafen geführt. Das problematische an diesen Urteilen ist, daß sie bereits in zweiter Instanz gefällt wurden, weil die davor verhängten Strafen in zweifelhaften Schnellverfahren zustande kamen. Solche Schnellverfahren widersprechen jeglichen rechtsstaatlichen Standards; der Richter entscheidet nach Aktenlage. Polizeizeugen, die einen angeblichen Steinwurf gesehen haben könnten, werden gar nicht erst vorgeladen. Der Angeklagte kann keine Akteneinsicht vornehmen. Die Verteidigung ist äußerst schwierig, wenn man sich bereits in der Berufung befindet. Die einzige, danach noch mögliche Instanz ist die Revision, die in den meisten Fällen am Urteil nicht mehr viel ändern kann.

Verschiedene Gruppen haben einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß gefordert. Was genau soll dieser aufklären?

Es muß geklärt werden, warum die Polizei ungestraft die Lüge verbreiten konnte, es habe 433 schwerverletzten Polizisten gegeben. Es gab in Wirklichkeit nur zwei Beamte, die im Krankenhaus behandelt wurden. Die Clowns waren auch nicht mit »Giftspritzen« bewaffnet, sondern hatten mit Seifenblasenflüssigkeit gefüllte Plastikspritzen. Auf Grundlage dieser Lügen gab es immerhin ein Versammlungsverbot. Die Landesregierung kann sich ihrer Verantwortung nicht entziehen mit dem Argument, die Kavala sei eine Sonderbehörde.

Am Samstag findet in Rostock eine Demonstration statt unter dem Motto »Gegen Justizwillkür und Überwachungsstaat«. Welche Forderungen werden die Demonstranten stellen?

Daß 1000 Unschuldige verfolgt worden sind, hat besonders bei den G-8-Gegnern Empörung ausgelöst. Das ist natürlich ein Mobilisierungsschub. Unsere Hauptforderung ist, daß die Kriminalisierung Unschuldiger aufhören muß. Es reicht nicht aus, daß 1000 Verfahren eingestellt werden. Die noch laufenden 146 und die vielleicht anstehenden 500 Anklagen müssen fallengelassen werden. Statt dessen muß das Verhalten der Kavala und der Staatsanwaltschaft durch einen unabhängigen Untersuchungsausschuß überprüft werden. - Von Nora Schareika

Samstag, 17. November, 14 Uhr, Saarplatz, S-Bhf-Parkstraße: Demonstration gegen Justizwillkür und Überwachungsstaat, antirep.blogsport.de

Quelle: Junge Welt vom 15.11.07

 

Neues Willkür-Urteil gegen G8-Gegner

* Neues Willkür-Urteil gegen G8-Gegner
* Richter ignoriert Entlastungszeugen
* Samstag Demonstration in Rostock

Vor der morgen in Rostock stattfindenden Antirepressions-Demonstration wurde gestern im Amtsgericht Rostock ein weiterer G8-Demonstrant verurteilt.

Der Beschuldigte soll 30 Tagessätze a 15 Euro bezahlen, weil er sich während der Demonstration am 2. Juni mit einem Halstuch vermummt habe. Auf Betreiben der Prozeß-Beobachtungsgruppe Rostock wird dieses Urteil bei der Landesjustizaufsicht auf Rechtsbeugung untersucht.

In dem mit 5 Zeugen, Video und Bildmaterial in insgesamt 2 Verhandlungstagen sehr aufwändigen Prozeß gab es nur eine belastende Aussage. Ein Hannoveraner Polizei-Zugführer behauptete, der Angeklagte habe sich am 2. Juni mit einem Halstuch vermummt von der Abschlußkundgebung in Richtung Altstadt entfernt. Der Zugführer sagte weiter aus, er habe den Angeklagten mit weiteren Personen bis zur Festnahme lückenlos beobachtet und mit seiner Gruppe im Spalier begleitet und später festgenommen.

In der Urteilsbegründung nahm der Richter nur auf diese Zeugenaussage Bezug und ignorierte 4 entlastende Aussagen, darunter auch solche von Polizeikräften. Videos und vom Festnahmeort gefertigte Bilder sagten gegenteiliges aus. Dem Zugführer war die durch Bäume Sicht versperrt. Aus dem Video wurde ersichtlich daß der Angeklagte nicht im Spalier begleitet wurde und der Zugriff zufällig erfolgte.

„Mit diesem neuen skandalösen Willkür-Urteil sorgt die Justizbehörde für einen neuen Mobilisierungsschub zur morgigen Demonstration“, kommentiert die Prozeß-Beobachtungsgruppe.

Die Demonstration beginnt um 14.00 Uhr am Saarplatz und führt über das Gebäude des Bundespolizeiamts, der Polizeiinspektion, der Staatsanwaltschaft und des Amtsgerichts zum Doberaner Platz.

Ebenfalls morgen findet in Genua eine Demonstration wegen anstehender Urteile gegen 25 Demonstranten statt. Sie hatten sich gegen einen Polizei-Angriff gewehrt und sollen nun für zusammen 225 in Haft.

Hintergrundinformation zum gestrigen Prozeß

Auch die Aussage des Zugführers, der Angeklagte habe sich vor der Festnahme umgeblickt und vor Schreck einen sich in seiner Hand befindlichen Stein fallen gelassen, wurde durch Aussagen der festnehmenden Polizeibeamten widerlegt. Die Beamten gehörten zum gleichen Zug. Einer sagte aus, der Angeklagte habe sich gar nicht umschauen können, da ansonsten die üblicherweise angewandte besondere Verhaftungstechnik des Schwitzkastens nicht funktioniert hätte. Um diese erfolgreich durchführen zu können müssen sich Polizisten dem Festzunehmenden von hinten nähern. Daß der Angeklagte einen Stein fallen ließ haben beide Festnehmenden nicht gesehen.

Beide vom Angeklagten benannten Entlastungszeugen sagten aus, daß der Angeklagte nicht vermummt gewesen war.

Der Richter würdigte deren Ausagen entgegen üblichen strafprozessualen Standards nicht, da sie für den Angeklagten sprechen würden und folglich nicht als neutral anzusehen seien. Alle die Glaubwürdigkeit der Aussage des Zugführers in Zweifel ziehenden Beweise und Aussagen der festnehmenden Beamten wurden von Richter Langer konsequent ignoriert.

Prozeß-Beobachter hatten den Eindruck, daß der Angeklagten verurteilt wurde um dem einzigen Belastungszeugen, dem Hannoveraner Zugführer, einen Strafprozeß wegen uneidlicher Falschaussage zu ersparen.

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