Sven Giegold (attac): neolib. Globalisierung - Alternativen der sozialen Beqwegung
... auf der Abschlusskundgebung der Demonstration zum SPD-Parteitag in Bochum am 17.11.2003. (Sven Giegold ist Mitglied im Attac-Koordinierungskreis)
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich komme direkt aus Paris, wo beim Europäischen Sozialforum mehr als 100.000 Menschen für ein Europa der sozialen Rechte und gegen Krieg demonstriert haben und in über 600 Veranstaltungen diskutiert haben. Das war ein großartiger Erfolg für unsere Bewegung!
Was wir derzeit in der Bundesrepublik erleben, ist ein Generalangriff auf die sozialen Grundlagen in unserem Land. Gesundheitssystem, Rente, Arbeitsmarkt, Arbeitslosenversicherung, Schließung sozialer Einrichtungen, eine Welle von Privatisierungen in den Kommunen - überall wird gekürzt, zusammengestrichen. In wenigen Monaten soll all das durch den Bundestag gepeitscht werden. Kaum einer blickt noch durch.
Dabei zieht sich ein Muster durch diese sogenannten "Reformen": Die Lasten haben die Schwaechsten zu tragen, waehrend oben Geschenke verteilt werden. Besonders deutlich ist das im Steuersystem. Die Spitzensteuersätze werden gesenkt, auf eine Vermögenssteuer verzichtet und die Großunternehmen zahlen dank Eichelscher Steuerreform keine Steuern mehr.
Derzeit wird umdefiniert, wofür unser Sozialstaat steht. Nicht mehr Bürgerinnen und Bürger haben soziale Rechte an den Staat, sondern EmpfängerInnen sozialer Leistungen sind Schmarotzer gegenüber der Allgemeinheit mit Pflichten gegenüber dem Staat. Damit wird das Sozialstaatsprinzip auf den Kopf gestellt.
In Bundestag und Bundesrat **regiert derzeit eine ganz-große Koalition aller Parteien**. Im Kern sind sie sich alle einig. Die Unterschiede sind im wesentlichen parteitaktische Spielchen. Die SPD macht nun die Politik, die die FDP 1996 noch gefordert hat. Lasst euch eines nicht einreden: Mit der CDU werde alles noch schlimmer. In punkto Sozialabbau bestehen zwischen den Parteien kaum Unterschiede.
Wie konnte es dazu kommen, dass Sozialabbau bei allen Bundesparteien, aber auch großen Teilen der Medien praktisch Konsens ist?
Es gibt mindestens zwei wichtige Gründe: Die überall grassierenden Wirtschaftsluegen und die veraenderten gesellschaftlichen Machtverhaeltnisse im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung.
Zuerst zu den Wirtschaftslügen:
Luege Nr. 1: Es ist kein Geld da. Die öffentlichen Kassen sind leer, das stimmt. Aber unsere Gesellschaft ist gleichzeitig als ganzes nicht ärmer geworden. Seit den 60er Jahren hat sich das Einkommen pro Kopf verdreifacht. Nun wird gestrichen, was damals eingeführt wurde. Wie kann das sein? Das versteht doch kein normal denkender Mensch. Fakt ist, dass Eichels Kassen leer sind. Fakt ist aber auch, dass die fehlenden 50 Mrd. ¤ ziemlich genau der Betrag ist, den er vorher den großen Unternehmen und Gutverdienenden im Zuge der Steuerreform erlassen hat. Es ist selbstverschuldetes Elend! Es ist genug für alle da!
Luege Nr. 2: Demographie zwingt zum Sozialabbau. Da unsere Gesellschaft immer älter wird und immer mehr alte Menschen von weniger Jungen finanziert werden müssen, können wir uns die soziale Sicherung angeblich nicht mehr leisten. Komisch nur, dass die Rürup-Kommission trotz aller Alterung der Gesellschaft mit einer weiteren Zunahme des Bruttosozialprodukts pro Kopf und Jahr von 1,8% rechnet. Wenn also die Renten langsamer als 1,8% steigen sollen, so muss irgendjemand mehr bekommen. Es ist also doch eine Verteilungsfrage. Wie kann das sein? Ganz einfach: Die Erhöhung der Produktivität schlägt die Alterung. 1925 kamen auf knapp zwölf Erwerbstätige ein Rentner. Heute arbeiten etwa 4 Erwerbstätige für eine Renterin. 2040 sollen es rund 2 sein. Trotzdem konnten alle - Alte wie Junge - ihre Einkommen stetig steigen. Ein Generationenkrieg war nicht nötig. Ein Sachzwang zum Abbau der Sozialsysteme existiert auch heute nicht. Wahr ist nur, dass wir Jüngeren einen wachsenden Anteil unserer Wertschöpfung an die Älteren abgeben müssen. Trotzdem werden auch wir Jüngeren im Durchschnitt der Jahre mit wachsenden Einkünften rechnen dürfen. Die Erhöhung der Produktivität schlägt eben die Alterung. Worüber wir allerdings nachdenken müssen: Wie können wir das dahinter liegende wirtschaftliche Wachstum mit den ökologischen Grenzen in Einklang bringen. Technisch und politisch möglich wäre es. Nur die Bereitschaft zur Veränderung unseres Lebensstils muss schneller als die Wirtschaft wachsen.
Luege Nr. 3: Niedrigere Steuern sind gut fuer die Wirtschaft. Es gibt keinen Beweis, dass die Wirtschaft besser funktioniert, wenn der Staat klein ist. Länder mit ganz verschiedenen großen öffentlichen Systemen können ökonomisch erfolgreich und erfolglos sein. Klar ist nur: Bei niedrigen Steuern und Abgaben gibt es kein Geld für Schulen, Kindergärten, Unis, öffentliche Einrichtungen und Umverteilung.
Luege Nr. 4: Arbeitsmarkt geht es besser, wenn die Loehne sinken. Es scheint so einleuchtend: Wenn man die Arbeit billiger macht, dann wird mehr Arbeit nachgefragt. Doch die Arbeitskosten sind gleichzeitig die Stütze der Binnennachfrage. Wer sie generell senken will, macht die Wirtschaft kaputt. Für die Bereiche der Wirtschaft, in denen mit gesellschaftlich sinnvoller Arbeit nur niedrige Erträge am Markt erzielt werden können, müssen maßgeschneiderte Lösungen ohne Lohndumping gefunden werden. Staatlich geförderte Dienstleistungsagenturen und die Ausweitung öffentlich finanzierter Beschäftigung sind ein guter Weg.
Luege Nr. 5: Durch Sparen in der Krise senkt man die Staatsschulden. Wer wie Eichel und Schröder in der Wirtschaftskrise Sparpolitik durchzieht, wird eine noch tiefere Krise und damit noch höhere Schulden ernten. Die jetzigen Probleme gehen zu einem guten Teil auf dieses Konto. Schulden kann man nur in guten Zeiten abtragen. Hier haben unsere Politiker gepennt und machen nun zum Ausgleich alles noch schlimmer.
Das Problem ist allerdings, dass nicht nur viele PolitikerInnen all diese Luegen glauben, sondern **genauso JournalistInnen und große Teile der Bevoelkerung**. Wenn es uns nicht gelingt, diese falschen Wirtschaftsideen à la Henkel aus den Köpfen zu vertreiben, haben wir keine Chance.
Auch wenn es mühsam ist, **wir brauchen eine große Aufklärungskampagne in Sachen Wirtschaft**. Deshalb versteht sich Attac als "Volksbildungsbewegung". Wir dürfen die Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht den PolitikerInnen und den Interessensvertretern der Wirtschaft überlassen! Wir müssen uns selbst schlau machen und uns gegen diese Lügen immunisieren.
Dieser ganze Unsinn hätte sich aber nie durchgesetzt, wenn sich nicht die Machtverhältnisse grundlegend verändert hätten. Damit komme ich nun zum zweiten Grund:
Die Veränderungen im Zuge der neoliberalen Globalisierung
Durch die wirtschaftliche Globalisierung sind die Interessen der KapitalbesitzerInnen und Unternehmen mobil geworden. Das Kapital geht dorthin, wo es die hoechsten Renditen, den kleinsten Sozialstaat, die unsichersten Arbeitsbedingungen, die niedrigsten Steuern und die hoechsten Subventionen bekommt. Gemeinwohlinteressen, wie soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Demokratie sind dagegen immobil. Sie sind an die Bevölkerung gebunden. Sie kann kaum mit Abwanderung drohen. Damit werden die Interessen der KapitalbesitzerInnen im politischen Streit immer maechtiger.
Diese veränderten Machtverhältnisse sind der wahre Grund, warum wider ökonomische Vernunft bzw. Zwang Sozialabbau betrieben wird. Globalisierung ist der entscheidende Grund. Das ist die Wahrheit!
In dieser Situation behaupten die PolitikerInnen: Es ginge nicht anders. Es gäbe ja keine Alternativen.
Ja, es stimmt. Die Globalisierung hat den Wettbewerbsdruck erhöht. Alle hier, die in Industriebetrieben arbeiten, wissen das. Aber die Regierungen haben immer noch große Spielräume. Vergleichen wir Dänemark oder Schweden mit Großbritannien. Alle sind der EU. In allen ist die Arbeitslosigkeit niedriger. Doch in den ersten beiden Ländern gibt es immer noch einen stark ausgebauten Wohlfahrtsstaat, exzellente Bildung, wenig Kriminalität und höhere Steuern als bei uns. In Großbritannien dagegen gibt es enorme Ungleichheit, miese öffentliche Einrichtungen und schlechte Wohnungen.
Es gibt also trotz Globalisierung erhebliche Spielraeume. Es gibt Länder, die mehr in den sozialen Bereich stecken als wir in Deutschland. Was wir derzeit erleben, ist dass die Regierung den Globalisierungsdruck um Sozialabbau durchzuziehen, zu dem sie ökonomisch nicht gezwungen ist. Sie scheut sich vor der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Gruppen, die politisch unter Globalisierungsbedingungen stärker geworden sind.
Wenn es also stimmt, dass es weiter Spielräume für soziale Politik gibt, wie sehen dann unsere Alternativen aus?
Es stimmt zwar, dass es weiterhin Spielräume für soziale Politik gibt, er schrumpft aber durch den immer härteren internationalen Wettbewerb. Deshalb muss dieser Druck auf die sozialen, demokratischen und oekologischen Rechte verringert werden. Die PolitikerInnen machen jedoch genau das Gegenteil. Bei den europäischen Verhandlungen in Brüssel oder bei der Welthandelsorganisation in Cancùn treiben unsere PolitikerInnen immer weitere wirtschaftliche Liberalisierungen voran. Wir müssen uns daher als erstes Ziel setzen: Keine weiteren Liberalisierungen, bevor wir nicht soziale und oekologische Rechte auf der internationalen Ebene durchgesetzt haben. Wir müssen soziale Gerechtigkeit globalisieren und europaeisieren!
Die sozialen Sicherungssysteme lassen sich nur finanzieren, wenn sie grundlegend verändert werden. Das gesamte Volkseinkommen muss zur Finanzierung von Gesundheit, Pflege, Rente herangezogen werden. Alle - also auch Selbständige, Freiberufler, usw. - müssen mit ihrem gesamten Einkommen einbezogen werden. Alle mit allem für alle. Es kann nicht sein, dass nur die Arbeitseinkünfte zur Finanzierung sozialer Sicherheit herangezogen werden können. Eine solidarische Buergerversicherung ist die Lösung unserer Probleme im Bereich sozialer Sicherung.
Damit das gelingt, müssen die Steuerschlupfloecher und Steueroasen fuer das Kapital geschlossen werden. Die Besteuerbarkeit von Kapital muss auch unter Globalisierungsbedingungen wiederhergestellt werden. Hier muss die Politik endlich entschieden handeln. Die USA macht in Teilbereichen schon vor, wie das geht.
Die Europaeische Union ist die entscheidende Ebene fuer die Durchsetzung sozialer Rechte. Sie ist groß genug, um dem Druck der Globalisierung widerstehen zu können. Doch was wir dort derzeit erleben, ist das genaue Gegenteil. Massive wirtschaftliche Liberalisierung. Wir werden für ein soziales und ökologisches Europa streiten müssen.
Schließlich hatte unsere Sozialstaat immer auch wichtige Schwächen. Viele Frauen und auch ImmigrantInnen waren von den Errungenschaften ausgeschlossen. In vielen Teilen der Welt gibt es keinerlei soziale Sicherung, sondern extremes Elend. Daher gilt es vielmehr in einer wohlhabenden Gesellschaft für ein Grundprinzip einzustehen. Jeder Mensch hat, weil er oder sie existiert, ein Recht auf die Teilhabe an den kulturellen Errungenschaften. Das bedeutet gegenueber den Entwicklungslaendern endlich faire Bedingungen zu schaffen und die Ausbeutung zu beenden. Bei uns in einem reichen Industrieland bedeutetet es das Recht auf ein bedingungsloses Existenzgeld.
Wir sollten uns keine Illusionen machen. Die folgende Enttäuschung würde nur jeden Fortschritt zurückwerfen. All dies wird sich angesichts der schlechten Ausgangslage nur schwer erreichen lassen. Wir werden wohl auch die Agenda 2010 nicht verhindern können.
Trotzdem muss die Aufklaerungsarbeit und die Proteste gegen den Sozialabbau weitergehen. Morgen findet mit Unterstützung des DGB in Hessen ein "Tag der Verweigerung" statt. Weitere Demonstrationen und lokale Proteste sind in vielen Orten angekündigt. Auch müssen wir unsere Alternativen bekannter machen.
Beim Europäischen Sozialforum in Paris wurde für den Anfang nächsten Jahres ein europaweiter Aktionstag gegen Sozialabbau und für soziale Rechte in Europa beschlossen. Dieser Tag soll gemeinsam mit der europäischen Gewerkschaftsbewegung durchgeführt werden. Dann werden wir nicht nur mit 100.000 wie am 1. November, sondern mit mehreren Hunderttausend nach Berlin kommen!
Wir müssen uns auf eine lange gesellschaftliche Auseinandersetzung einstellen. Falsche Hoffnungen auf die ganz großen Erfolge würden nur Enttäuschungen produzieren und Bewegung entmutigen. Die Einhegung und Zivilisierung der Globalisierung ist eine historische Herkulesaufgabe. Das wird nicht einfach. Das wird lange dauern. Doch soziale Bewegungen haben schon in der Vergangenheit sehr viel erreicht: Die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung, die Umweltbewegung. Alle haben sie vorher für unmöglich Gehaltenes geschafft.
Heute brauchen wir eine soziale Bewegung, die die Globalisierung umfasst. Sie muss international sein und pluralistisch, also alle umfassen, die die Welt nicht einfach den globalisierten ökonomischen Interessen überlassen will. Dazu gehören Gewerkschaften, christliche Gruppen, Sozialverbände bis hin zu kapitalismuskritischen Gruppen und viele mehr.
Gemeinsam können wir der Globalisierung ein soziales Gesicht geben und die Internationalisierung sozialer Rechter erkämpfen. Es liegt in unserer Hand.