Sozialproteste in Frankreich: Kultur der Renitenz
Oktober 2006. Die Regierungsparteien SPD und CDU haben fünf Landtagswahlen im letzten halben Jahr einigermaßen glimpflich überstanden und fühlen sich stark genug, den angekündigten »Reformaufbruch« mit Inhalt zu füllen. Die Kanzlerin und ihr Vize legen ein im Vorfeld als »Chefsache« bezeichnetes Arbeitsmarktprogramm vor, dessen Kernstück die Abschaffung des Kündigungsschutzes für unter 25jährige ist. Binnen weniger Wochen wird das Gesetz handstreichartig durch den Bundestag gehievt.
Linke Parteien, Gewerkschaften und Sozialverbände laufen Sturm. Bis zu 1,5 Millionen Menschen – Arbeiter, Erwerbslose, Studenten und Schüler – beteiligen sich an landesweiten Protesaktionen. 16 Universitäten werden komplett besetzt, in den meisten anderen ist der Lehrbetrieb stark eingeschränkt. Die Protestierer fordern die vollständige Rücknahme des Kündigungsschutzgesetzes und kündigen die massive Ausweitung ihrer Aktionen an. Die Gewerkschaften erklären klipp und klar, daß es einen Generalstreik mit dem Ziel des Sturzes der Regierung geben werde, wenn das Gesetz nicht gekippt wird. In den Regierungsparteien mehren sich die Stimmen, die ein Einlenken fordern. Mehrere Bundesländer kündigen an, Firmen, die das neue Gesetz anwenden, von Subventionen und der Vergabe öffentlicher Aufträge auszuschließen. Angela Merkel dämmert so langsam, daß sie diese Schlacht nicht gewinnen kann. Spiegel, Zeit und Frankfurter Allgemeine greinen, daß das Land unreformierbar sei.
Man braucht in dieser Geschichte eigentlich nur den Oktober durch den März und Bundeskanzlerin Angela Merkel durch Premierminister Dominique de Villepin zu ersetzen und hat eine Bestandsaufnahme der momentanen französischen Verhältnisse. An ihre Übertragung auf Deutschland vermag man allerdings kaum zu glauben. Landesweite Proteste gegen massive soziale Einschnitte sind in den vergangenen Jahren in Deutschland selten über symbolische Aktionen hinausgekommen. Auch sogenannte linke Sozialdemokraten wagen kaum noch Widerworte. Studenten gehen, wenn überhaupt, in erster Linie für ihre eigenen Karriereaussichten auf die Straße und scheuen oft das Bündnis mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Gewerkschaftsführer stehen kurz vor dem Infarkt, wenn jemand von politischen Streiks redet. Führende Politiker der Linkspartei.PDS betonen, daß man auf Landesebene als Koalitionspartner unsoziale Gesetze umzusetzen habe und auf Bundesebene durch Kompromißbereitschaft regierungsfähig werden müsse.
Was in Deutschland im Vergleich zu Frankreich fehlt, ist eine republikanische Kultur der Renitenz. Aber wer nicht bereit ist, »demokratisch legitimiertem« Sozialabbau mit der Macht der Straße entgegenzutreten, wird den neoliberalen Vormarsch nicht stoppen können. Von Rainer Balcerowiak
Quelle: Junge Welt vom 20.03.2006