Alternativen, für die sich zu streiten lohnt
Eingangsthesen für die Abschlussdiskussion auf dem Perspektivenkongress (Version vom 16. Mai 2004)
von Roland Roth
I. Gemeinsamkeiten
Die Frage nach dem Gemeinsamen ist angesichts eines 60seitigen Programmbuchs mit einer kaum zu überschauenden Vielfalt von Veranstaltungen mit 17 Themenachsen und unterschiedlichsten Zugängen nicht leicht zu beantworten. Ich möchte dennoch den Versuch wagen, jenseits der Vielstimmigkeit einige hoffentlich weder banale noch selbstverständliche Gemeinsamkeiten zu benennen
- Uns eint das Unbehagen an der herrschenden Politik, die sich in ihren rotgrüngelbschwarzen Varianten überaus kompakt und scheinbar alternativlos als "neoliberale Einheitspartei" präsentiert. Dieses Unbehagen hat viele Quellen: von der Agenda 2010 bis zur Militarisierung der EU, vom Bologna-Prozess an den Hochschulen bis zur Privatisierung kommunaler Betriebe, von der Praxisgebühr bis zur angekündigten Verarmung durch Hartz IV..
- Wir gehen davon aus, dass diese herrschende Politik einen kleinsten gemeinsamen Nenner hat, den wir mit "neoliberal" bezeichnen. Diese im Namen der "Privatisierung" durchaus gewollte politische Selbstabdankung, dieses Schrumpfen politischer Gestaltungsansprüche im Namen des Marktes, des Standorts, der profitablen Innovation, der Flexibilität und die Ausdehnung des Profitprinzips auf Bereiche, die im Namen des Gemeinwesens entzogen waren, ist der gemeinsame Nenner dessen, was uns aufbringt.
- Damit einher geht die Aushöhlung liberaler Demokratien. Längst ist die Marktsouveränität an die Stelle der Volkssouveränität (Art. 20 GG) getreten. Gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten, angefeuert von ihren wissenschaftlichen Experten und Kommissionen, die gemeinsam den politischen Raum besetzt halten und einschnüren, fordern wir eine Demokratie der Bürgerinnen und Bürger, die auf umfassende Beteiligung und Mitsprache setzt.
- Wir brauchen Alternativen, weil uns die herrschende Politik national wie international wachsende soziale Ungleichheit, zunehmende Unsicherheit durch Krieg und Terror, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Massenarbeitslosigkeit beschert. Erfolgreich ist sie einzig in der Ausweitung der Bereicherungschancen für Wenige. Perspektivlos ist sie regelmäßig dort, wo es um die Lebensbedingungen der großen Mehrheit geht.
- Der Kongress hat eindrucksvoll gezeigt, dass es Alternativen zur herrschenden Politik gibt. Aber es gibt sie nur im Plural, in einem breiten Spektrum von Möglichkeiten. Wir brauchen Experimentierbaustellen, denn es gibt nicht den einen besten Weg. Im Veränderungsprozess selbst werden wir lernen müssen und sehen, wie die vielen kleinen und größeren Alternativen zusammen passen und sie immer wieder an den Leitwerten Demokratie und universelle Menschenrechte messen müssen.
- Wir wissen, dass diese Veränderungspraxis weniger denn je eine nationale Veranstaltung sein kann und soll. So ist z.B. dieser Perspektivenkongress von den Weltsozialforen in Porto Alegre und Mumbai inspiriert. Porto Alegre hat auch solch konkrete Alternativen wie die Bürgerhaushalte angeregt, mit denen inzwischen einige Dutzend Kommunen in Deutschland experimentieren. Für uns dürfte es selbstverständlich sein, die globalen ökologischen, sozialen und ökonomischen Wirkungen unserer Veränderungsprojekte zu bedenken und im Blick zu behalten.
II. Differenzen, offene Fragen und Perspektiven
Die bunte Vielfalt der Alternativen ist nur solange produktiv, wie es gelingt, sich über Strategien und Handlungsperspektiven zu verständigen und gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Eine Minimalanforderung besteht darin, wechselseitige Blockaden und Enttäuschungen zu vermeiden. In folgenden Dimensionen gehen m.E. die Perspektiven dieses Kongresses auseinander:
- Protest oder Dagegensein ist nicht genug. Dieser Perspektivkongress lässt sich als gemeinsame Antwort auf die Abwertung der Protestmobilisierungen von 3. April dieses Jahres verstehen, die ja in den Medien weithin als alternativlose Koalition von Neinsagern und Ewiggestrigen hingestellt wurden. Hier sammeln sich, so der Tenor, die Modernisierungsverlierer. Dagegen gilt: mit Protest, mit der Tugend des öffentlichen Neinsagens beginnt eine Politik, die von der Pluralität von Menschen, ihren Wünschen und Interessen ausgeht, die sich nicht einer eindimensionalen ökonomischen Logik unterwerfen wollen.
Dennoch ist wichtig, sich über die Richtung des Protests zu verständigen. Geht es in erster Linie um die defensive Erhaltung und Wiederherstellung von Zuständen und Einrichtungen, die von der herrschenden Politik bedroht sind, etwa die "Verteidigung des Sozialstaats" oder die Rückkehr des "Keynesianismus" oder geht es um zukunftsorientierte Alternativen, die ein Mehr an Demokratie und Menschenrechte anstreben, als dies die alten Formen auch in ihren besseren Zeiten zuließen. Selbst wenn die offiziellen demographischen und ökonomischen Argumente für die Agenda 2010 alle falsch sind, kann es ja sinnvoll sein, nach demokratischen und inklusiven sozialpolitischen Alternativen zu suchen, die z.B. weniger herrschaftlich-bürokratisch und erwerbsarbeitszentriert sind. - Veränderungstiefe und Reichweite. Wie tiefgreifend müssen Veränderungen sein, um die gewünschten Alternativen zu verwirklichen? Schon ein flüchtiger Begriff auf die Themen der Workshops zeigt eine enorme Spannbreite. Sie reicht von einer Verständigung über den Umgang mit dem neuen Arbeitslosengeld II am 1.1.2005 bis zur Institutionalisierung transnationaler sozialer Rechte, die einen weitgehenden Umbau der bestehenden Weltwirtschaftsordnung voraussetzt, will man auch nur das Versprechen der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und der dort garantierten sozialen Rechte einlösen. Eine Kampagne gegen die Steuerflucht oder ein politisch und ethisch motivierter Boykott von Markenfirmen setzen eine geringere Veränderungstiefe voraus als die Forderung nach einem auskömmlichen, bedingungslosen Existenzgeld für jede und jeden oder einer grundlegenden Neubewertung der verschiedenen Formen gesellschaftlicher Arbeit, die schon aus ökologischen und aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit so bedeutsam ist. Sicherlich, soziale Bewegungen leben davon, dass sie pragmatische Ansätze mit eher utopischen Perspektiven verknüpfen können, dass sie mit einem Spektrum an reformerischen und radikalen Ansprüchen aufwarten, aber die scheinbar machbaren Initiativen sollten die grundlegenden Veränderungsperspektiven stützen und sie nicht hintertreiben. Zudem brauchen sie auch Erfolge in kleiner Münze. Aber zu oft hat im Rückblick die pragmatische Alltagspraxis die revolutionären Sonntagsreden blamiert auch zum Schaden der pragmatischen Alternativen. Zudem kommt es darauf an, die Summe der gewünschten Veränderungen im Blick zu behalten. Für die neuen sozialen Bewegungen, deren Motive auf diesem Kongress durchaus lebendig sind, wurde vor etwa 20 Jahren festgestellt, dass trotz kleiner Münzen im einzelnen die Summe der gewünschten Veränderungen bei weitem das Niveau überschreitet, dass der eher alternativenarme "reale Sozialismus" verwirklicht hatte bzw. verwirklichen wollte. Mein Eindruck ist, dass die Summe der auf diesem Kongress diskutierten Alternativen dieses Veränderungsniveau noch einmal drastisch erweitern.
- Den globalisierten Kapitalismus "einbetten" und "zähmen" oder eine sozialmoralische Ökonomie entwickeln? Zahlreiche Vorschläge und Kampagnen, die auf diesem Kongress präsentiert wurden, zielen auf eine soziale, ökologische, geschlechterneutrale Einbettung der kapitalistischen Dynamik, die letztlich von staatlichen und transnationalen Regulierungsinstanzen geleistet werden soll. Heimliches Curriculum ist der national- und sozialstaatlich "gezähmte" Kapitalismus nach dem II. Weltkrieg. Wie dies erneut selbst bei bester Absicht - unter Globalisierungsbedingungen gelingen könnte und welche demokratisch kontrollierten Institutionen dazu aufzubauen wären, ist alles andere als leicht zu beantworten. Dies gilt freilich auch für eine sozialmoralisch gestimmte, wesentlich lokale und regionale Ökonomie, die wir bislang bestenfalls in Nischenform von Tauschringen bis zur sozialen Ökonomie kennen oder als abhängige Bereiche kennen (Dritter Sektor).
- Zeithorizonte. Auf welche Zeitperspektive stellen wir uns ein? Herbert Marcuse hat einmal den revolutionär gestimmten "68ern", die in Campusnähe Anfang der 1970er Jahre bereits "befreite Gebiete" ausgerufen hatten, entgegen gehalten, dass die Verwirklichung einer befreiten Gesellschaft nur das Werk mehrerer Generationen sein könne. Revolutionäre Unmittelbarkeit ist heute sicherlich nicht die vorherrschende Stimmung. Gerade für den notwendig "langen Atem" jeder Veränderungspraxis ist es wichtig, sich über Zeitperspektiven zu verständigen, um einen schnellen Zyklus von Engagement, Enttäuschung und Rückzug gerade bei Jüngeren zu vermeiden. Selbst auf den ersten Blick pragmatische Forderungen - wie etwa die Tobin-Steuer oder die negative Einkommenssteuer - sind ja bereits seit einigen Jahrzehnten in der politischen Debatte und keine Selbstläufer.
- Politische Formen und Wege zur Gegenmacht. Auf welche politischen Eingriffs- und Veränderungsformen setzen wir? Diese Frage hängt eng mit unserem Selbstverständnis zusammen. Verstehen wir uns in erster Linie als punktuelles Bündnis sehr unterschiedlicher Gruppierungen, das sich vor allem an den Staat wendet, um dessen Politik zu beeinflussen. Oder wollen wir zu einer sozialen Bewegungen werden, die eine eigene Agenda entwickelt und sie auch in einer eigenen politischen Alltagskultur experimentierend lebt. Wenn wir auf die großen Mobilisierung gegen den Irak-Krieg und gegen die Agenda 2010 zurück blicken, sehen wir eine in sich sehr heterogen zusammen gesetzte Protestmobilisierung, die in dieser Form eher durch einen gemeinsamen Anlass als durch darüber hinaus weisende Gemeinsamkeiten geprägt ist. Dies gilt letztlich auch für diesen Kongress, denn es besteht immer die Möglichkeit, dass "jeder an seinen Ort", sprich in seine Gruppe, Initiative, Organisation zurückkehrt, ohne sich für ein gemeinsames Projekt zu erwärmen. Immerhin haben die beteiligten Gruppierungen die Erfahrung machen müssen, dass es zwar eine breite Opposition mit vielfältigen Alternativen gibt, aber im Alltag zu schwach und fragmentiert sind, um der neoliberalen Offensive wirksam zu begegnen. Dies gilt für Großorganisationen wie für kleine lokale Initiativen.
Es gibt gute Gründe auf eine dauerhaftere, autonome außerparlamentarische Opposition zu setzen, die auf keine politische Gelegenheit verzichtet, institutionellen Einfluss zu entfalten, aber nicht staatsfixiert auf schnelle Resonanz in den politischen Apparaten setzt. Wer auf Bewegung setzt, wird den Bemühungen um eine neue Partei notwendig skeptisch gegenüber stehen. Die Entwicklung der Bündnisgrünen und auch der PDS, wo sie an Regierungen beteiligt ist - hinreichend Anschauungsmaterial dafür liefert, dass der erfolgreiche parteiförmige und parlamentarische Weg fast zwangsläufig mit dem Verlust von weiter reichenden Perspektiven einherzugehen scheint, wie sie auf diesem Kongress debattiert und für notwendig befunden wurden. Offensichtlich bedarf es dazu auch anderer politischer Formen und nicht nur eines Personalwechsels und neuer Parteinamen.
Bereits vor nunmehr fünf Jahren hat Pierre Bourdieu, den wir hier schmerzlich vermissen, zu einer gemeinsamen europäischen Sozialbewegung aufgerufen. Die Erfahrungen seither zeigen, dass sie sich nicht auf die Schnelle aus dem Boden stampfen lässt. Eine eigenständige außerparlamentarische Opposition wird sich nur entwickeln und stabilisieren lassen, wenn das Niveau gelegentlicher Aktionsbündnisse bundesweiter Kongresse überschritten wird.
Wir benötigen eine in sich vielstimmige, die Motive der alten und neuen sozialen Bewegungen wie der globalisierungskritischen Mobilisierungen in sich aufnehmende - breite soziale Bewegung. Dazu braucht es eine Annäherung der unterschiedlichen Organisationskulturen, Milieus und Szenen, aus denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Kongresses kommen. Eine solche inklusive politische Oppositionskultur lässt sich vor allem lokal entwickeln. Ihre Grundlage sind eigene Einrichtungen und Treffs, die direkte Kommunikation ermöglichen. Internet und transnationale Netzwerke können diese Kooperationsebene nicht ersetzen. Nur so ist längerfristig eine gemeinsame Protestpraxis möglich, aber auch um die Perspektivdebatte praktisch weiter zu führen und in Experimenten zu erproben. Um die Milieus der alten und der "alten" neuen sozialen Bewegungen ist es vielerorts ruhig geworden. Aber die Zahl rebellischer Bürgerinnen und Bürger ist keineswegs geringer geworden. Ob in Hospizgruppen oder in Boykottinitiativen, in Weltläden oder in Stadtteilgruppen, es gibt eine zersplitterte, politisch wenig sichtbare, oft nur punktuell orientierte Opposition. Attac konnte nach den Mobilisierungserfolgen bei Gipfelprotesten von diesem politischen Vakuum an zahlreichen Orten profitieren. Die lokalen Gruppen sind aber oft ähnlich heterogen zusammen gesetzt wie dieser Kongress. An anderen Orten haben sich lokale Bündnisse und Sozialforen gebildet, die Kooperationen stiften können. Es gibt auch in Zukunft genügend gemeinsame Gelegenheiten zum - nicht nur, aber vor allem auch - lokalen Handeln: vom Widerstand gegen den Cross-Border-Leasing Ausverkauf, über die Umsetzung der Hartz-Gesetze bis zum partizipatorischen Haushalt ("Bürgerhaushalt"). Nur so kann eine Kultur des Vertrauens und das "soziale Kapital" alltäglich gelebter Solidarität (Suppenküchen und andere Formen gegenseitiger Hilfe) entstehen, das auch für jene besonders Betroffenen attraktiv ist, die es nicht gelernt haben, ihre Interessen in die eigenen Hände zu nehmen. - Intellektuelle Veränderungspraxis und Maßstäbe für unsere Perspektiven. Dieser Kongress hat zur Befreiung der Köpfe beigetragen, Gegengifte gegen die neoliberal herrschaftliche Verdummung des "es gibt keine Alternative" entwickelt. Für die noch vor uns liegende intellektuelle Arbeit einer politischen und ökonomischen Alphabetisierung und Selbstaufklärung sollten wir uns an das Motto von Günther Anders halten, dass er 1980 für den zweiten Band seiner "Antiquiertheit des Menschen" mit dem Untertitel "Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution" - in kritischer Fortsetzung von Marxens 11. Feuerbachthese wählte: "Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderungen auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns." Wenn wir des Utopismus geziehen werden, können wir uns darauf berufen, dass es darauf ankommt, unsere Ideen praktisch werden zu lassen: "In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen" (Karl Marx, 2. These über Feuerbach, MEW 3, 533).
Aber nicht alle Ideen drängen zur Wirklichkeit. Immerhin sollten wir einige Maßstäbe zu ihrer Beurteilung beachten:
- Weisen die konkreten Alternativvorschläge in die anzupeilende Richtung?
- Handelt es sich um zentrale gesellschaftspolitische Aufgabenbereiche?
- Ist es wahrscheinlich, dass die Konzepte schon als Konzepte und dann in ihren ersten verwirklichten Etappen auf diejenigen genügend Anziehungskraft ausüben, die von der herrschenden negativen Sozial- und Wirtschaftspolitik am meisten betroffen sind und/oder die über genügend politische Vorstellungskraft verfügen, um die Chancen radikaler Reform zu erkennen?
Fraglos haben die besten Perspektiven keinen Sinn, wenn sie denen restlos abstrakt bleiben, denen sie gelten.
Abschließend drei Fragen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Podiums:
- Welches sind die zwei bis drei vordringlichsten pragmatischen Ziele, die wir in nächster Zeit angehen sollten? Welche grundlegende Perspektive sollen sie voranbringen?
- Welche Handlungsformen sollten wir wählen, um möglichst viele zu beteiligen, ohne bei folgenlosen Zählappellen zu landen?
- Welche phantasievollen Protest- und Aktionsformen, auch des zivilenUngehorsams sind nötig, um die Mauer der Ignoranz zu durchstoßen?
mehr Infos unter www.perspektivenkongress.de