Wie weiter nach dem 3. April? - 3 Beiträge ...
Beiträge von Pedram Shayar (attac), Roswitha Müller (Anti-Hartz-Bündnis NRW), Martin Künkler (Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen)
Das Eis scheint gebrochen
Von Pedram Shahyar
Nicht alles, aber einiges hat sich verändert, seit wir innerhalb von sechs Monaten zwei Großdemonstrationen gegen den Sozial-Kahlschlag erleben durften. Man mag darüber streiten, wo sich wie viel verändert hat. Aber der Blick des progressiven Menschen hier zu Lande auf die Nachbarländer, wo in den letzten Jahren so oft Hunderttausende auf der Straße waren, sollte jetzt mit einer deutlich geringeren Portion Eifersucht behaftet sein. Das Eis der Passivität scheint gebrochen.
Die größte Demonstration gegen Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik war nur möglich, weil die Linken, besonders aus Gewerkschaften, Basisgruppen und globalisierungskritischer Bewegung, beflügelt von der internationalen Bewegung, den Mut hatten, am 1. November zu einer Demonstration aufzurufen. Diese schockierte alle Beteiligten positiv und ermutigte den DGB, nach einigen harten Niederlagen seine ganze Kraft für eine Mobilisierung zu riskieren. Nachdem nun am 3. April eine halbe Million Menschen demonstriert haben, ist der DGB wieder zurück auf der politische Bühne und hat seine gesellschaftliche Isolation vom letzten Sommer zu einem Teil überwunden.
In der Bündnisarbeit lief nicht alles, wie wir es uns gewünscht hatten. Letztendlich wurden die Kräfte, die den 1. November realisiert hatten, vom DGB nicht als Partner auf gleicher Augenhöhe behandelt. Dies hat nicht nur in der Vorbereitung einige Verunsicherungen verursacht; es hat die Demonstrationen als rein gewerkschaftliche Aktion erscheinen lassen und ihr damit eine noch größere Schlagkraft geraubt. Es ist aber sehr erfreulich und in dieser Form auch eine neue Entwicklung, dass die Teile des DGB sich überhaupt durchsetzen konnten, die gegen die Neoliberalismus in rot-grüner Färbung mobilisieren wollten. Hier gilt es weiter anzusetzen, die Zusammenarbeit im Protest zu vertiefen. Der von Gewerkschaften und Attac initiierte und von vielen Gruppen unterstützte »Perspektivenkongress« im Mai ist hierfür ein weiterer wichtiger Baustein.
Die Regierung hat aber unmissverständlich klar gemacht, dass sie den sozialen Kahlschlag weitertreiben will. Dass die Union die neoliberale Gangart noch erhöhen will, ist kein Geheimnis. So werden wir uns auf längere und noch härtere Zeiten einstellen müssen. Die Mobilisierungen der letzten Monate legen einen Grundstein für eine außerparlamentarische soziale Opposition, die in den nächsten Jahren ein Faktor werden kann, an dem keine Regierung vorbei kommt. Dafür müssen Voraussetzungen geschaffen werden.
In der Bündnisarbeit darf keine der Gruppen Alleinvertretungsansprüche erheben. Die Pluralität ist im Protest ein kaum zu überschätzendes Gut, und sie ermöglicht die Integration unterschiedlichster Milieus der Verlierer neoliberaler Globalisierung in die Bewegung. Der Pluralismus ist aber keine Selbstverständlichkeit und kulturell hier zu Lande kaum gewachsen. In den Bündnissen, ob lokal oder überregional, prallen sehr unterschiedliche politische Kulturen aufeinander. Die Entwicklung der Toleranz gegenüber anderen politische Kulturen ist eine der zentralen Voraussetzungen, wenn wir eine nachhaltige soziale Bewegung entwickeln wollen.
Was die konkrete Arbeit angeht, stehen zunächst zwei Aufgaben an: Es gilt politische Räume zu schaffen, wo viele weitere Menschen sich einbringen können, wo sie oppositionell denken und handeln können. Davon gibt es bei weitem nicht genug. Viele Menschen finden keinen Anschluss an die bestehenden oppositionellen Strukturen. Diese sind in den traditionellen Bewegungen zum Teil bürokratisch verkrustet und auch in den neuen Bewegungen oft nicht offen genug. Dafür brauchen wir in unseren Strukturen mehr reale Demokratie.
Eine erfolgreiche Praxis der sozialen Bewegung braucht ferner noch kreativere und schärfere Aktionsformen. Wir können nicht bei Demonstrationen und Petitionen stehen bleiben. Gezielter ziviler Ungehorsam, Aneignung sozialer Güter und öffentlicher Räume bis hin zu betrieblichen Aktionen und Streiks gilt es bei gegebenen Möglichkeiten einzusetzen als eine adäquate Antwort auf die Verschärfung der Angriffe, die nicht mehr einfach weiterer Sozialabbau sind, sondern die Menschen durch massiver Verarmung, Zwang und Verunsicherung in ihre Würde treffen.
Eine neue Kultur der Zusammenarbeit, offene Räume und neue Formen der Praxis: all dies ist im letzten halben Jahr in kleinen Schritten probiert worden. Hier gilt es, weiter anzusetzen und die neuen Möglichkeiten des oppositionellen Handels zu ergreifen. Dann können wir trotz neoliberaler Hegemonie optimistisch sein, dass die Tatsache, dass weltweit genug für alle da und eine radikale Umverteilung des Reichtums kein Hirngespinst ist, nicht erst in der nächsten Generation mehrheitsfähig wird.
Pedram Shahyar lebt in Berlin und ist Mitglied des Koordinierungskreises von Attac; www.attac.de
Unsere Agenda heißt 3010
Von Roswitha Müller
Das Anti-Hartz-Bündnis NRW hat mit großem Erfolg verschiedene Demonstrationen zum Teil selbst organisiert, zum Teil mit dazu aufgerufen. Die großen Demonstrationen vom 1. November 2003 und 3. April 2004 gehören dazu – und beide haben deutlich gemacht, dass ein beträchtliches Protestpotenzial vorhanden ist. Das ist gut so und eine wichtige Voraussetzung für zukünftige Erfolge. Es muss mehr als bisher daraus gemacht werden!
Die Aktionskonferenz in Frankfurt (Main) im Januar diesen Jahres war kein Erfolg. Darüber kann auch die »kämpferische Stimmung«, die bei vielen einen anderen Eindruck hinterließ, nicht hinwegtäuschen. Zwei Dinge hat diese Konferenz versäumt, die sie hätte leisten müssen, um als Erfolg gelten zu können: Erstens wurden kaum konkrete Vorbereitungen für den zweiten und dritten April getroffen. Nur durch dieses Versäumnis war es möglich, dass der 3. April fast vollständig vom DGB bestimmt wurde. Zweitens unterblieb die Verabschiedung eines mitreißenden Streikaufrufes.
Das Anti-Hartz-Bündnis NRW hat sich für die nächste Zeit für ein kampagnenorientiertes Vorgehen entschieden. Wir halten dies für notwendig, um dem vorhandenen Protestpotenzial eine Richtung zu geben. Unsere aktuelle Kampagne hat den Arbeitstitel: »Erhaltung und Ausbau der Arbeitslosenhilfe! Weg mit den Hartz-Gesetzen!« Dies Thema betrifft keineswegs nur Arbeitslose, im Gegenteil! Denn durch die Hartz-Gesetze können Beschäftigte und Arbeitslose gegeneinander ausgespielt werden. Die Ausweitung der Leiharbeit und der Zwang für Arbeitslose, sich praktisch zu jedem noch so niedrigen Lohn verkaufen zu müssen, wirken sich massiv auf die Situation der Beschäftigten aus. Schon jetzt machen viele Betriebe von der Möglichkeit Gebrauch, reguläre Arbeitsverhältnisse zu reduzieren und stattdessen Leiharbeiter oder Arbeitslose einzustellen – und schlechter zu bezahlen. Finanzielle Absicherung für Arbeitslose gibt auch den Menschen in den Betrieben eine viel bessere Position beim Engagement für bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen, beim Einsatz für die Erhaltung ihrer Rechte.
Der DGB hat Hartz zugestimmt. Er drängt darauf, die Hartz-Gesetze schnell und konsequent umsetzen; das geht eindeutig aus verschiedenen Stellungnahmen in letzter Zeit hervor. Damit torpediert der DGB aber auch seine Ziele, das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifautonomie zu schützen. Wenn sich die Stellung der abhängig Beschäftigten durch Hartz & Co. drastisch verschlechtert, wird auch die Position der Gewerkschaften bei den Tarifauseinandersetzungen geschwächt. Betriebsverfassungsgesetz und Tarifautonomie sind nur dann zu erhalten, wenn DGB und die Einzelgewerkschaften schnellstens auf einen konsequenten Anti-Hartz-Kurs umschalten.
Die Bewegung muss lernen, selbstbewusst und souverän ihre Positionen zu vertreten, ihre eigenen Forderungen zu stellen. Die könnten zum Beispiel lauten: Unsere Agenda heißt 3010! 30 Stunden sind genug, bei vollem Lohnausgleich! 10 Euro Mindestlohn. Das Geld ist da, aber es ist in den falschen Händen. Wiedereinführung der Vermögenssteuer! Vermögensabgabe von den Reichen! Wir lehnen die Hartz-Pläne, die Rürup-Pläne und die Agenda 2010 vollständig ab!
Es zeigt sich immer deutlicher, dass von den Leuten, die bei Attac das Sagen haben, kein engagierter Widerstand gegen Sozialabbau zu erwarten ist. Das war so bei den Vorbereitungen für den 1. November und das wurde nochmals klar bei der Aktionskonferenz im Januar in Frankfurt (Main).
Auf anderen Politikfeldern, etwa wo es um die Rechte der Migranten geht, gibt es sehr engagierte Leute. Diese Bewegung mit einzubeziehen in den Widerstand gegen Sozialkahlschlag, ist eine dringende politische Aufgabe. Wir müssen auch lernen, zum Beispiel Bankangestellte anzusprechen, die ihre Betriebsrenten bisher so sicher wie in Fort Knox hielten – und nun die Erfahrung machen, dass auch ihre Alterssicherung von Kürzungen bedroht ist.
Wir haben es im Moment in großen Teilen mit einer rein defensiven Bewegung zu tun. Aber das ist immerhin besser als gar keine Bewegung. Wir müssen im Blick behalten, dass das Europa der Konzerne die Zerschlagung sozialer Errungenschaften und die Unterordnung aller Lebensbereiche, einschließlich Bildung, Gesundheit, Sexualität, unter die Logik des Kapitals zum Ziel hat. Deshalb ist es wichtig, dass die Bewegung aus der Defensive herauskommt und dass sie ihre politischen Horizonte erweitert. Ein schönes Leben für alle muss unser Ziel sein.
Roswitha Müller ist EDV-Organisatorin und im Anti-Hartz-Bündnis Nordrhein-Westfalen engagiert. www.anti-hartz-buendnis-nrw.de
Gegen die Logik des »kleineren Übels«
Von Martin Künkler
Es muss Schluss sein mit einer Politik, die der Masse der Bevölkerung schadet und die die Reichen immer reicher und die das Kapital und seine Manager immer dreister werden lässt«, forderte der DGB-Vorsitzende Michael Sommer zurecht am 3. April. Doch Sozialdemokratie und Grüne werden den Kurs der Agenda 2010 nicht aus sich heraus verändern. Nur wenn der Druck von der Straße so gesteigert werden kann, dass der Sozialdemokratie weiterer Machtverlust und ein Absinken in die Bedeutungslosigkeit drohen, besteht die Chance auf einen Kurswechsel. Wahlniederlagen in diesem Jahr – und der damit verbundene Verlust von Mandaten, Ressourcen und Geld – sind wohl die notwendige Bedingung für eine »Revolte« innerhalb der Sozialdemokratie gegen die Agenda 2010.
In Berlin, Köln und Stuttgart waren viele Menschen auf der Straße, die sonst nicht demonstrieren – so der Eindruck vieler Beobachter. Daran sollten zukünftige Protestaktivitäten anknüpfen. Es gilt, die Themen in den Mittelpunkt zu stellen, die unter den Nägeln brennen. Folgende Kristallisationspunkte, an denen die grundfalsche Richtung der Agenda 2010 und Alternativen aufgezeigt werden können, bieten sich an: Der absehbare Großkonflikt um längere Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst sollte genutzt werden, um für die Umverteilung von Erwerbsarbeit zu werben. Anhand der Gesundheits»reform« mit Praxisgebühr und Zuzahlungen kann exemplarisch verdeutlicht werden, wie die Agenda 2010 Arbeitnehmer, Kranke, Rentner und Arbeitslose schröpft und wie Arbeitgeber und Reiche profitieren. Und schließlich sollte die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ein zentrales Thema sein. Gerade an diesem Punkt kann mit Aufklärung noch viel bewegt werden, denn die katastrophalen Folgen sind in der breiteren Öffentlichkeit noch wenig bekannt: Hunderttausende Erwerbslose und ihre Familien werden in die Armut gestürzt. Vielfach werden Wohnungswechsel erzwungen, da die Mietkosten nur in engen Grenzen übernommen werden. Und Erwerbslose müssen (fast) jede Arbeit zu jedem Preis annehmen.
Hier besteht aber auch ein strategischer Ansatz, um die Proteste gegen die Agenda 2010 zu verbreitern. Denn die Löhne der Beschäftigten werden immens unter Druck geraten, wenn die Arbeitslosenunterstützung nicht zum Leben reicht und Erwerbslose Hungerlöhne akzeptieren müssen. Wer bei Arbeitslosen kürzt, der drückt auch die Löhne. Diese indirekten Auswirkungen auf Beschäftigte sollten wir stärker ins Blickfeld rücken.
Die erfolgreichen Massenproteste am 3. April lassen sich nicht in beliebig kurzen Zeitabständen wiederholen. Aber Gewerkschaften und soziale Bewegungen sollten schon jetzt Demonstrationen für den Herbst ankündigen und konkret vorbereiten. Bis dahin sollten Protestaktionen und Aufklärungsarbeit vor Ort verstärkt werden. Dabei sollte die direkte Auseinandersetzung mit Politikern von SPD und Grünen gesucht werden, etwa durch Veranstaltungen in Form von Streitgesprächen oder durch »Besuche« bei Bundestagsabgeordneten. Nicht mit der Illusion, jeden überzeugen zu können, sondern mit dem Ziel, die Politiker den Zorn über ihre Politik spüren zu lassen. Der Aufenthalt im Wahlkreis muss für Abgeordnete ein genauso unangenehmes und eindrückliches Erlebnis sein wie ein disziplinierendes Vier-Augen-Gespräch bei Franz Müntefering.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung empfindet die Agenda 2010 als ungerecht und lehnt sie ab. Dies belegen Umfragen. Andererseits hält aber auch eine Mehrheit »Reformen« für unausweichlich. Die neoliberale Ideologie ist ja deshalb so wirkungsmächtig, weil sie an konkrete Alltagserfahrungen wie etwa dem verschärften Konkurrenzkampf der Unternehmen oder Arbeitsplatzabbau anknüpfen kann. Hier gilt es, Mythen und weit verbreitete Glaubenssätze zu knacken. Zum Beispiel: Kern der Arbeitsmarktmisere ist nicht, dass Arbeitsplätzen ins »billigere Ausland« verlagert werden, dass sie wie in einem System kommunizierender Röhren hier zu Lande verloren gehen und anderswo neu entstehen. Arbeitsplätze werden primär abgebaut, weil mit immer weniger Arbeitsstunden immer mehr Waren geschaffen werden und die Nachfrage hinter dieser Produktivitätssteigerung hinterherhinkt.
Es gilt, die lähmende Logik des »kleineren Übels« aufzubrechen. Viele Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften treibt die Sorge um, dass die Proteste gegen die Agenda 2010 der schwarz-gelben Opposition in die Hände spielt. Nur: Rot-Grün ist nicht das kleinere, sondern ein ganz »besonderes Übel« (IG BAU Chef Klaus Wiesehügel). Die Vorlagen der Regierung sind geradezu eine Einladung an die Opposition, noch was draufzusatteln. Wer die noch dreisteren Absichten der Opposition verhindern will, muss somit die Regierungspläne bekämpfen. Denn die Agenda 2010 ist nicht die bessere Alternative zum »größeren Übel«, sie ist dessen Wegbereiter.
Martin Künkler arbeitet für die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen; www.erwerbslos.de