Mag Wompel (Labournet Germany) zu den Montagsdemos und ihrer Koordinierung
Artikel in "Neues Deutschland" vom 03.09.04
Nicht nur demonstrieren, sondern täglich kämpfen
Montagsdemos in über 200 Städten, zunehmend auch im Westen, ziehen immer mehr Menschen auf die Straße. Die lang erwartete breite Empörung richtet sich vor allem gegen Hartz IV, das offensichtlich als i-Tüpfelchen empfunden wird. So optimistisch die aktuellen Proteste stimmen, sollten dabei meines Erachtens einige Aspekte nicht aus dem Blick geraten:
- Hartz IV ist nicht das Ende der Sozialabbaupläne, weshalb sich die Proteste nicht nur gegen Hartz IV, sondern mindestens gegen alle – teilweise längst reibungslos umgesetzten – Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 richten müssen.
- Reformpakete wie die Agenda 2010 hier zu Lande gibt es in ganz Europa, weshalb wir uns verstärkt um internationale Vernetzung der sozialen Proteste bemühen sollten.
- Wenn wir uns nicht wie der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB mit kleinen Abmilderungen abfinden wollen, wird der Protest möglichst bald Aktionsformen erfordern, die über eine Demonstration hinausgehen und den Verursachern der so genannten Reformpolitik wehtun. Dazu brauchen wir ein möglichst breites Bündnis.
- Deshalb ist es bedauerlich, wenn sich die Bewegung der Montagsdemos einerseits bereits spaltet und andererseits eine eigene Koordinierung aufbaut, anstatt sich als ein Teil der internationalen Proteste gegen den Sozialabbau zu begreifen. Die wesentlichere Koordinierung findet am 18./19.9. in Frankfurt/ Main mit der nächsten Aktionskonferenz statt. Sie soll Auftakt sein für eine Herbstkampagne mit vielfältigen Aktivitäten, u.a. bundesweiter Demo vor der Bundesarbeitsagentur am 6. und den dezentralen Aktionstagen um den 17. November herum sowie schließlich der Aktion "AgenturSchluss" mit Protesten in den örtlichen Agenturen für Arbeit am 3.1.2005. Arbeitsniederlegungen der (noch?) Beschäftigten sind leider nicht in Sicht, aber dringend erforderlich.
Die bisherige bundesweite Koordinierung hat leider gezeigt, dass wir noch viel zu lernen haben. Dies gilt für auch hier erlebte Spaltungen und ungleiche Augenhöhen, für demokratische Formen des Umgangs mit politischen Unterschieden und dies gilt für die Priorität der Sache vor persönlichen und parteilichen Profilierungswünschen. Sollen nicht alte Fehler wiederholt werden, müssen meines Erachtens die zu planenden Aktivitäten folgenden Kriterien zu genügen:
- Die Form der Proteste sollte vorrangig den Auf- und Ausbau dezentraler alltäglicher Widerstandsstrukturen und -bündnisse befördern. Was aktuell durch die Montags- oder auch Freitagsdemos eher unterstützt wird, als durch Märsche nach Berlin.
- Die Protestformen sollten so gewählt sein, dass sie möglichst viele Personen aus den unterschiedlichsten Betroffenheitskreisen beteiligen und zur gegenseitigen Unterstützung animieren: Prekäre, Migranten und Migrantinnen, Erwerbslose und Sozialhilfebezieher, Schüler und Studenten, Rentner.
- Deswegen müssen neue Formen des Widerstandes gesucht werden, die auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Verweigerung und des Protestes, aber auch auf unterschiedliche Befähigung, Courage und Motivation Rücksicht nehmen und zugleich Sand ins Getriebe der Hartz-Gesetze streuen.
Wo bleibt der aktive Widerstand der Gewerkschaften?
Denn: Die größten und pressewirksamsten Aktionstage und Demonstrationen werden nichts nützen, solange im Alltag der Sozialabbau und unsere Spaltung reibungslos verlaufen – woran sich leider die Gewerkschaften tatkräftig beteiligen. Statt aktiv bei der Umsetzung der Hartz-Gesetze mitzuwirken (bei gleichzeitigen verbalen Protesten), sollte gerade ver.di den aktiven Widerstand gegen die Streichung der Arbeitslosenhilfe organisieren, Seminare zum Thema »Wie kann ich Hartz unterlaufen?« anbieten und die Beschäftigten von Arbeits- und Sozialämtern mobilisieren. Nun müssen wir dies übernehmen, und den bereits jetzt betroffenen Erwerbslosen, Sozialhilfebezieherinnen und -beziehern oder Zwangs-LeiharbeitnehmerInnen helfen, sich gegen die täglichen Zumutungen und Entwürdigungen zur Wehr zu setzen.
Eine weitere hemmende Komponente für einen wirkungsvollen, einheitlichen Widerstand ist die Angst, die sich in der Bevölkerung ausbreitet. Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren oder Angst, keinen Arbeitsplatz zu finden. Immer öfter blanke Existenzangst. Diese Angst lähmt und verstärkt die Fixierung auf die Lohnarbeit. Im Zeitalter des propagierten Endes der Arbeitsgesellschaft ist Arbeit als Lohnarbeit dominierender denn je. Angst lähmt aber nicht nur die Handlungsfähigkeit – auch die Fantasie über zuverlässigere Existenzsicherung als die Lohnarbeit. »Hauptsache Arbeit haben« sagen und denken immer mehr Menschen, »Arbeit statt Hartz« heißt es auf vielen Montagsdemos. Diese Genügsamkeit ist aber in meinen Augen das wichtigste Hemmnis für eine erfolgreiche Bewegung gegen Sozialabbau und Erpressungen durch das Kapital. Diese Genügsamkeit lässt Widerstand höchstens gegen die nächste Verschlechterung aufkommen und die letzte – und nicht zuletzt das gesamte System der Verwertungszwänge – als Normalität erscheinen.
Wir müssen nicht nur demonstrieren, sondern alltäglich kämpfen: Nicht für die Binnennachfrage, sondern für alle Menschen, nicht nur gegen Lohn- und Lohnersatzkürzungen, sondern gegen die gesamte Ökonomisierung unseres Lebens. Ablehnung des Wettbewerbsprinzips, Ablehnung aller Kriege: der militärischen, der Standortkriege und der Kriege gegen vermeintlich nicht verwertbare Menschen, Ablehnung des Zwangs zur Lohnarbeit und der unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Ablehnung des Rassismus und der Abschottung der EU – das muss faktisch demonstriert werden, wo uns unzumutbares zugemutet wird: am Arbeitsplatz, im Stadtteil, auf dem Arbeits- oder Sozialamt.
Dafür muss in den Bündnissen und ihren Koordinierungen aber auch die Angst überwunden werden, bestehende politische Differenzen über die Ziele der Proteste auszutragen und zu diskutieren. Denn wollen wir uns nicht mit kleinen Abmilderungen des Elends abspeisen lassen, kommen wir nicht umhin, nicht nur Hartz IV, die Agenda oder den Neoliberalismus zu bekämpfen, sondern die Ursache im kapitalistischen System selbst.
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Mag Wompel ist Industriesoziologin und freie Journalistin. Sie arbeitet als Redakteurin des LabourNet Germany, dem Treffpunkt der Gewerkschaftslinken www.labournet.de /