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Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV - bloß nicht an 1989 denken?

Edith Bartelmus-Scholich (KoKreis NRW-Netzwerk gegen Sozialkahlschlag) über die Berechtigung der "Inanspruchnahme des Begriffs 'Montagsdemonstration' sowie der Losung 'Wir sind das Volk!'", mögliche Entwicklungschancen und für den Erfolg notwendige Entwicklungsperspektiven der Bewegung (Beitrag im Montaggsdemo-Diskussionsforum der "rf-news" vom 11.08.04)


Angesichts der Möglichkeit, dass sich die selbstorganisierten Massendemonstrationen zur bundesweiten Bewegung gegen Hartz-Gesetze und Agenda 2010 ausweiten könnten, reagieren die Regierung und maßgebliche Kreise der deutschen Wirtschaft zunehmend nervös.

Der Bundesregierung ist dringend daran gelegen, die Debatte um die Arbeitsmarktreform Hartz IV zu „versachlichen“. Die Situation sei «nicht einfach, weil wir es zu tun haben mit einem hohen Grad an Hysterie», betonte Hans Langguth, der stellvertretende Pressesprecher der Bundesregierung in einer Erklärung vom 10.8.04. Er kündigte für die kommende Woche eine zusätzliche Informationskampagne der Bundesregierung an. Langguth äußerte sich auch kritisch über die Verwendung des Begriffs «Montagsdemonstrationen» für die Proteste gegen Hartz IV. Die Montagsdemonstrationen in der DDR-Wendezeit seien «ein Ausweis von ziemlich mutigem Willen zur Veränderung» gewesen. Aus Sicht der Bundesregierung gebe es aber einen Unterschied zu dem, «was damals stattgefunden hat und dem was jetzt stattfindet: Damals ging es um dringend erforderliche Reformen in einem autoritären System». Dies sollte jeder Protestler bedenken, «bevor er sich mit dem Begriff Montagsdemonstration gemein macht», meinte Langguth. (dpa 11.8.04)

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt springt der Regierung zur Seite und warnt vor «Panikmache» bei der Diskussion um das neue Arbeitslosengeld II. Die Zusammenfassung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer einheitlichen Leistung für bedürftige Erwerbsfähige sei ein richtiger Reformschritt. «Er darf jetzt nicht aus partei- oder machtpolitischem Kalkül grundsätzlich in Frage gestellt werden», heißt es in einer Stellungnahme Hundts vom 9.8.04 in Berlin.

Schon am 3.8.04 schrieb das Handelsblatt zu den beginnenden Montagsdemonstrationen: „Die Anleihe beim historischen Vorbild ist makaber. 1989 leiteten mutige DDR-Bürger mit den allwöchentlichen Umzügen das Ende der DRR und den Untergang des real existierenden Sozialismus ein. Unter ihm wurden Millionen Menschen über Generationen um Freiheit und privates Glück betrogen. Hartz IV aber ist der mutige Versuch, Millionen Langzeitarbeitslosen, deren Schicksal bisher verwaltet wurde, durch aktivierende Arbeitsmarktpolitik den Weg zurück in ein selbstbewusstes Leben zu ebnen….“

Zehntausende Montagsdemonstranten, bislang vor allem Betroffene von Hartz IV, können die vom Handelsblatt vorgenommene Einschätzung nur als puren Zynismus empfinden. Für sie hat Hartz IV den Rang einer existentiellen Bedrohung angenommen, seitdem sie durch den 16seitigen Fragebogen zur Feststellung der Bedürftigkeit objektiv das Ausmaß der Demütigungen, Deklassierungen, Zwangsmaßnahmen und Enteignungen nicht nur für sich persönlich, sondern auch für alle ihre Haushaltsangehörigen richtig begriffen haben. Sie erkennen, dass Hartz IV angesichts eines Arbeitsmarktes, in dem auf eine offene Stelle mehr als 10 Bewerber kommen, genau das Mittel ist, was sie auf Jahre und Jahrzehnte um den Rest dessen, was das Handelsblatt als privates Glück bezeichnet, bringen wird. Nicht Desinformation, sondern Erkenntnis der konkreten und individuellen Folgen der „Reform“ befördert in Verbindung mit Angst und Wut die Welle der Proteste. Daher wird auch keine Informationskampagne der Bundesregierung die Proteste stoppen können.

1989 haben sich die Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR mit friedlichen Massenversammlungen die Rechte erkämpft, auf deren Grundlage sie heute gegen Hartz IV aufstehen. Dass dabei ein Staat zusammengebrochen ist, war am Anfang dieser Protestbewegung weder Forderung noch Perspektive. Eingefordert wurden demokratische Rechte in einem sozialistischen Staat unter Berufung auf den Souverän, das Staatsvolk. Durch den bewussten, aber nicht gesteuerten Zulauf, den diese Bewegung erhielt, hat sie sich damals legitimiert. Die historische Erfahrung, die den Menschen in den neuen Bundesländern geblieben ist, lässt sie hoffen, dass man auch diesmal wieder etwas erreichen kann, wenn man gemeinsam auf die Straße geht. Die historische Entwicklung von 1989 und die Inanspruchnahme des Begriffs „Montagsdemonstration“ sowie der Losung „Wir sind das Volk!“ ist für die Bevölkerung zunächst im Osten, aber vielleicht auch zunehmend im Westen, die Basis von Zuversicht im Kampf gegen Hartz IV und gleichzeitig für die Verantwortlichen Politik und Wirtschaft die Quelle von Angst. Bei den Eliten aus Politik und Wirtschaft ist durchaus bewusst, dass eine mit einem Minimalprogramm startende Bewegung, die sich rasch zur Massenbewegung ausweitet, auch eine Dynamik hinsichtlich der Zielsetzungen dieser Bewegung in Gang setzen kann.

Aus der Forderung „Hartz IV muss weg!“ kann unschwer entwickelt werden, dass auch die ganze Agenda 2010 auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Eine nächste Folgerung wäre dann, die Forderungen gegen das neoliberale „Reformprogramm“ um eigene, in breiter Demokratie beschlossene, Alternativen zu erweitern. „Arbeit für alle!“ wurde auf den Montagsdemonstrationen bereits gefordert. Von diesem Anspruch hin bis zur Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich ist es ein verhältnismäßig kleiner Schritt, aber zugleich ein qualitativer Sprung, der notwendig eine massive Gegenwehr der Herrschenden nach sich ziehen würde. Gewonnen würde eine solche Auseinandersetzung sicher erst dann, wenn die gesellschaftliche Solidarität und Kampfbereitschaft die Betriebe erreichen und sich zu einer Massenstreikbewegung ausweiten würde. Eine solche vorstellbare Entwicklung, die hier nicht vorgedacht werden sollte, fürchten die Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft mit Recht, denn sie wäre geeignet, Jahre des neoliberalen Umbaus innerhalb kurzer Zeit zu revidieren und zugleich die Grundlagen von Staat und Gesellschaft neu zu definieren. – Ihre Angst sollte den Demonstranten Mut machen!

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