Nahverkehr: Schwarzfahren für alle
Greenpeace berichtete 1998: Die beiden brandenburgischen Städte Lübben und Templin haben dieses Frühjahr den Nulltarif für alle Buslinien eingeführt. Vorbild ist Hasselt in Belgien.
Sechsmal so viele Fahrgäste wie voriges Jahr benutzen in den brandenburgischen Kleinstädten Lübben und Templin den Bus. Eine traumhafte Steigerungsrate – erzielt durch eine zwar simple, aber revolutionäre Änderung der örtlichen Verkehrspolitik: Die Beförderung kostet nichts mehr. „Unsere vier Buslinien waren früher kaum belegt und fuhren uns nur Defizite ein. Jetzt sind sie voll, und die Einnahmen aus der Werbung an den Haltestellen decken einen Teil der Kosten“, erklärt die Templiner Tourismusbeauftragte Sabine Hertrich. Dazu kommen Sponsorengeld sowie eine erhöhte Kurtaxe. „Insgesamt zahlt die Stadtkasse nicht mehr als vorher, aber wir haben weniger Probleme durch Autos – und eine schöne Reklame für uns“, freut sich Hertrich. Das Spreewaldstädtchen Lübben finanziert die einzige Buslinie im Ort bisher allein aus dem Stadtsäckel. „Wir wollen den Status als ,Erholungsort‘ erlangen. Das können wir nur, wenn wir unsere 100.000 Touristen jährlich umweltschonend befördern“, sagt die Lübbener Pressesprecherin Hannelore Tarnow.
Gemeinsames Vorbild ist die belgische Stadt Hasselt. Deren unkonventioneller Bürgermeister Steve Stevaert hat im Juli vorigen Jahres die Fahrkarten aus dem Verkehr gezogen und damit einen Großteil der Probleme der Stadt gelöst: Der geplante dritte Straßenring um den alten Stadtkern wurde überflüssig; das eingesparte Geld deckt die Kosten für die Busse. Umweltschützer freuen sich über weniger Abgase, alte Menschen über mehr Kontakte und Geschäftsleute über entspanntere Besucher in der Innenstadt – darunter etliche Delegationen aus ganz Europa und Japan, die neugierig prüfen, wie das flämische Wundermodell funktioniert.
Deutsche Verkehrsexperten sehen im Nulltarif allerdings kein Patentrezept. „Eine Fernstraße nicht zu bauen und das gesparte Geld in den Etat für den öffentlichen Nahverkehr zu stekken, das läßt unser Haushaltsrecht leider nicht zu“, erklärt Helmut Holzapfel, Professor für Stadt- und Landschaftsplanung an der Gesamthochschule Kassel. Friedhelm Bien, Pressesprecher des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen in Köln, sagt: „Es ist schlimm genug, daß die Zuschüsse zum öffentlichen Nahverkehr stetig sinken. Zusätzlich auf die insgesamt etwa 8,5 Milliarden Mark Einnahmen pro Jahr aus den Fahrscheinen zu verzichten – das ist unmöglich.“ Selbst der alternative „Verkehrsclub Deutschland“ (VCD) in Bonn hält den Nulltarif allenfalls in Ferienorten für sinnvoll. „Wer Verkehr verursacht, sollte auch dafür zahlen“, findet VCD-Referent Hinrich Kählert.
Der Zürcher Verkehrsexperte Willi Hüsler gibt zu bedenken: „Versuche in Bologna und Liechtenstein haben gezeigt, daß Nulltarif nicht lange gut geht. Großstädte häufen so gewaltige Defizite an.“ Daß der Nahverkehr auch ohne Nulltarif sprunghaft beliebter werden kann, hat Hüsler in Lemgo vorgeführt. Die westfälische Stadt hat nach seinen Ideen den Busverkehr umstrukturiert, vor allem mehr Linien und eine billige Jahreskarte eingeführt. Dazu kam eine aufwendige Imagekampagne. Ergebnis: Die Passagierzahl stieg von 40.000 pro Jahr auf über zwei Millionen.
Greenpeace-Verkehrsexperte Karsten Smid hält die Einwände der Nulltarif-Skeptiker zwar für bedenkenswert, „doch muß man andererseits sehen, daß ein für Fahrgäste kostenloser öffentlicher Nahverkehr jede Menge Autos von den Straßen brächte“. Das renommierte Wuppertal Institut hat eine Variante entwickelt, die den Nulltarif aus der Kostenfalle befreien könnte – „eingeschränkten Nulltarif“. Verkehrsfachmann Harald Diaz: „In seiner Gemeinde oder Stadt sollte jeder Einwohner frei fahren dürfen.“ Doch kostenlos wäre der Freifahrtschein für die Bürger trotzdem nicht. Diaz will den Nulltarif über Abgaben finanzieren: durch Parkplatzgebühren, eine Nahverkehrs-Abgabe ähnlich der für die Müllabfuhr und durch die Gewerbesteuer. Der Einnahme-Mix würde bewirken, daß neben den Einwohnern auch die örtlichen Firmen den Nulltarif bezahlen. Diaz findet das ganz richtig: „Die Unternehmen haben schließlich ein Interesse daran, daß ihre Mitarbeiter günstig zu ihnen kommen.“
Quelle: greenpeace magazin 3.98