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»Keiner hat das Recht zu gehorchen«

Hartz-IV-Tribunal in Frankfurt am Main: Druck auf Veranstalter, öffentliche Anhörung abzusagen.

Gespräch mit Angelika Beier -  Angelika Beier ist beim DGB-Bezirk Hessen-Thüringen Referentin für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

Am Freitag findet in Frankfurt am Main ein »Hartz-IV-Tribunal« von Erwerbsloseninitiativen mit verschiedenen Bündnispartnern statt, darunter dem DGB Hessen. Im Vorfeld wollte man Sie dazu bewegen, die Veranstaltung abzublasen, in der ALG-II-Bezieher und Beschäftigte von Jobcentern ihre Fälle darstellen. Von den Verantwortlichen, die bei diesem Tribunal »angeklagt« werden, wird es offenbar sehr ernst genommen. So ernst, daß etwa Conrad Skerutsch, Geschäftsführer der Werkstatt Frankfurt, nach einem jW vorliegenden Schreiben versucht, andere Beschäftigungsträger gegen das Tribunal aufzubringen. Wie finden Sie das?

Wir haben offenbar wunde Punkte getroffen, und zwar mitten im Wahlkampf. Sechs ALG-II-Bezieher werden ihre Fälle der Öffentlichkeit schildern. Dabei geht es um vorenthaltene Kosten der Unterkunft, um unfähiges Fallmanagement und andere inhumane Schikanen der Ämter und Träger. Die Werkstatt Frankfurt mit etwa 900 Ein-Euro-Jobs wird ebenfalls beschuldigt. Der Stoff scheint derart brisant zu sein, daß offenbar von mehreren Seiten versucht wurde, unsere Kooperationspartner von einer Beteiligung abzuhalten. Bei einigen hat das gewirkt. Nur so kann ich mir erklären, daß der Sozialverband VdK Hessen und das Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche Hessen- Nassau sich zurückgezogen haben. Post gab es auch von einem Bildungsträger in Marburg, dessen Vertreter zugleich Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft von Beschäftigungsträgern ist: Unser Tribunal stelle »von seiner Aufmachung her ein Niedermachen des ganzen beschäftigungspolitischen Arbeitsmarktes dar«, hieß es. Bei anderen hat es das Gegenteil bewirkt. Als sie von unseren Schwierigkeiten erfuhren, erhielten wir Solidaritätsschreiben. Ver.di Hessen z. B. unterstützt die Auswahl der Fälle und trägt das Tribunal mit.

Warum haben sich Organisationen zurückgezogen?

Vom VdK war zu hören, man wolle parteiunabhängig sein, sich nicht auf diese Weise in den Wahlkampf einmischen.

Stichwort Landtagswahl in Hessen am 27. Januar: Ist es nicht im Sinn der Aufklärung, daß im Wahlkampf Parteien von gesellschaftlich relevanten Gruppen kritisch unter die Lupe genommen werden?

Auf jeden Fall. Bei einem Zündstoff wie diesem gibt es allerdings Widerstände. Die hessische Landesregierung spielte eine wesentliche Rolle bei den Hartz-Reformen, sie will bei der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bundesweit Maßstäbe setzen. Es war der hessische Ministerpräsident Roland Koch, der das Konzept des Forderns und Förderns und von Leistung und Gegenleistung nach seinem Besuch im US-Staat Wisconsin populär machte. Er brachte seine Überlegungen 2002 als »Hessisches Offensivgesetz« in den Bundesrat. Hessens Ministerpräsident ist Geburtshelfer von Hartz IV.

Daß die hessische Landesregierung auf dem Tribunal mit angeklagt wird, liegt also nahe. Wie werten Sie das Verhalten des kirchlichen Trägers, der nicht mehr mitmachen will?

Das bedaure ich sehr. Schließlich haben Caritas und Diakonie sich zur Landtagswahl deutlich positioniert. Sie fordern einen Armuts- und Reichtumsbericht und ein Landesprogramm gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Doch offensives Auftreten wie auf diesem Tribunal und Kritik der Ein-Euro-Job-Praxis an der Seite von Betroffenen, damit haben sie Schwierigkeiten. Der Rückzug beschädigt das Bündnis zwischen Gewerkschaften und kirchlichen Trägern. Wenn die Botschaft der Landesregierung an die anderen Länder lautet, eine Gesellschaft sei auch ohne das Soziale machbar, dann dürfen gerade Kirchen bei Protestaktionen nicht abtauchen. Dann gilt für alle das Wort von Hannah Arendt: Keiner hat das Recht zu gehorchen.

Aber die Hartz-IV-Kampflinie verläuft mitten durch die Gewerkschaft. Der Frankfurter DGB-Vorsitzende Harald Fiedler stellt sich in einem Brief an die Werkstatt Frankfurt hinter einen Verein, der 2004 die Tarifverträge gekündigt hat und seither in großem Stil Ein-Euro-Jobber beschäftigt. Fiedler erklärt in dem junge Welt vorliegenden Schreiben zudem, seinen Einfluß geltend machen zu wollen, um den DGB Hessen umzustimmen.

Da müssen Sie den Kollegen Fiedler fragen, was er sich dabei denkt.

Das hat junge Welt bereits versucht. Wir stießen auf eine Mauer des Schweigens und wurden an ver.di-Geschäftsführer Thomas Wissgott verwiesen, der auch keine Stellung nehmen wollte.

Wir – und dahinter steht auch unser Landesvorsitzender Stefan Körzell– lassen uns von niemandem sagen, welche Veranstaltung wir mittragen und welche nicht. Wir sind ein eigenständiger Verband und haben demokratische Entscheidungsstrukturen.

Maulkorb für Betriebsräte


Wie ein Grünen-Politiker und die Geschäftsführung der Werkstatt Frankfurt kooperieren, um Kritiker von Ein-Euro-Jobs im hessischen Landtagswahlkampf mundtot zu machen

Die Geschäftsführung des stadtnahen Vereins Werkstatt Frankfurt, größter hessischer Beschäftigungsträger mit rund 900 Ein-Euro-Jobbern, versucht weiterhin, ver.di-Betriebsräte einzuschüchtern und ihnen einen Maulkorb umzuhängen. Die Beschäftigtenvertreter setzen sich dafür ein, daß Ein-Euro-Jobber Arbeitnehmerrechte erhalten und tariflich entlohnt werden– sie sind deswegen ständig Repressionen ausgesetzt (jW berichtete). Eine Ende Februar 2007 von der Werkstatt Frankfurt gestellte Strafanzeige wegen Untreue und Betrugs gegen drei ver.di-Betriebsräte und einen Arzt war nicht von Erfolg gekrönt – das Ermittlungsverfahren wurde mittlerweile von der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main eingestellt. Die neueste Schikane des Geschäftsführers des Beschäftigungsträgers ist eine außerordentliche Kündigung zweier ver.di-Betriebräte. Die besondere Brisanz: Damit kommen mitten im hessischen Landtagswahlkampf personelle Verquickungen mit der Frankfurter Kommunalpolitik ans Tageslicht. Deutlich wird, wie mit allen Mitteln jegliche Kritik an Ein-Euro-Jobs unterdrückt werden soll.

Die Vorgeschichte: Anfang November 2007 lud das Journal Frankfurt zu einer Wahlkampfveranstaltung mit mehreren Landtagskandidaten ein, an der unter anderem der Grünen-Abgeordnete Marcus Bocklet beteiligt war. Wie Andreas Joos vom ver.di-Arbeitskreis Soziale Vereine Frankfurt mitteilte, stellten dort zwei Betriebsräte Bocklet, der bis 2006 Vorstandsmitglied bei der Werkstatt Frankfurt war, unbequeme Fragen: Aus welchem Grund habe er der Kündigung aller Tarifverträge sowie 30 betriebsbedingten Kündigungen im Jahr 2004 zugestimmt? Und: Sei er informiert gewesen, daß sich unter den Gekündigten mehrere amtierende Betriebsräte und Mitarbeiter mit einer über 15jährigen Beschäftigungsdauer befanden? Diese unterliegen bekanntermaßen einem besonderen Kündigungsschutz. Bocklets Antwort: Die Werkstatt Frankfurt sei in wirtschaftlich schwieriger Situation gewesen, somit seien »diese Maßnahmen notwendig geworden«. Eine weitere Klärung habe der Grünen-Politiker auf die Zeit nach der Wahl verschieben wollen, konstatiert Joos empört.

Bocklet habe sich beim Arbeitgeber über die kritischen Diskussionsbeiträge der beiden Betriebsräte beschwert und damit deren außerordentliche Kündigung erst hervorgerufen, so Joos. Als Geschäftsführer Skerutsch die Betriebsräte dann abstrafte, habe plötzlich selbst Bocklet befunden: Kündigungen seien als Mittel der politischen Auseinandersetzung abzulehnen.

Joos findet es skandalös, daß »ein Geschäftsführer versucht, Kritiker von Ein-Euro-Jobs mundtot zu machen, und glaubt, somit vermeintlich Wahlkampfhilfe für den Grünen-Politiker Bocklet leisten zu können«. Die Begründung der Kündigungen der Betriebsräte empört den ver.di-Mann: Nach Bocklets Auftritt hätten sie sich erneut schriftlich an den Grünen-Politiker gewandt und diesem »gedroht«, seine Wahlkampfveranstaltungen weiterhin aufzusuchen, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Wodurch sich dieser angeblich »genötigt« gefühlt haben soll. »Für mich ist nicht nachvollziehbar, wie ein Kandidat für Landtagswahlen sich durch den Besuch öffentlicher Wahlkampfveranstaltungen und die Ankündigung kritischer Fragen bedroht fühlen kann«, so Joos.

Beim Gütetermin am vergangenen Donnerstag, wo die Kündigungsschutzklage einer Betriebsrätin verhandelt wurde, erklärte das Frankfurter Arbeitsgericht: Möglicherweise seien Grundrechte der Betriebsräte verletzt. Gemeint war offenbar das Recht auf freie Meinungsäußerung. Bei der Verhandlung wurde keine Einigung erzielt, ein Kammertermin ist für den 1. April angesetzt.

Der ver.di-Arbeitskreis Soziale Vereine Frankfurt organisiert Solidarität und fordert neben der Abschaffung der Ein-Euro-Jobs nun die sofortige Rücknahme der Kündigungen sowie »das Recht auf uneingeschränkte politische und gewerkschaftliche Betätigung beim stadtnahen Verein Werkstatt Frankfurt und im öffentlichen Leben«.

Von Gitta Düperthal

Quelle: Junge Welt vom 16.01.08

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