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Untertanen. Warum (erfolgreiche) Massenproteste à la France in Deutschland undenkbar sind

Am ersten Aktionstag sind es 700.000, am zweiten über eine Million und am dritten mehr als zwei Millionen, die in ganz Frankreich auf die Straße gehen.

Der Premierminister hält eine Fernsehansprache vor elf Millionen Zuschauern, um seine „Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit“ zu „erklären“ und die Gemüter zu beruhigen. Sie hat einen „Dopingeffekt auf die Proteste“, die danach schnell anwachsen, meldet ein Rundfunksender kurz darauf. 14 Tage später spricht der Präsident vor über zwanzig Millionen Fernsehzuschauern. Wieder möchte er „erklären“ und beruhigen. Mehr als 60 Prozent der von Meinungsforschungsinstituten Befragten sind gleichwohl „nicht überzeugt“. Vier Tage später findet ein weiterer Streik- und Aktionstag statt, an dem wieder Millionen in ganz Frankreich auf die Straße gehen. Kurz darauf kippt die Regierung das geplante Gesetz.

Derlei kollektive Renitenz kennt man in Deutschland nicht, auch wenn man sich mittlerweile an Streiks in knapper Dosierung zu gewöhnen scheint, sogar in der Spießerhochburg Stuttgart. Zur knappen Dosierung gehört auch, das streikende Metallarbeiter in Deutschland die Interessen der Metallarbeiter verteidigen, das Staatsbedienstete für die Interessen von Staatsbediensteten, Studenten für die Interessen von Studenten streiken usw. Schon das ist anders in Frankreich. Streikende Pariser Studenten machen sich um fünf Uhr morgens auf zur Vollversammlung der Métrobeschäftigten oder Eisenbahner in der Frühschicht. Junge Linksradikale demonstrieren mit alten Metallarbeitern, die mit Krankenschwestern demonstrieren, die mit Arbeitslosen demonstrieren, die mit „illegalen“ Einwanderern demonstrieren...

Woher dieser augenfällige Unterschied ? Ein kurzer Blick in die Geschichte hilft weiter. Es ist so banal wie richtig, darauf hinzuweisen, dass sich die französische Bourgeoisie anders konstituiert hat als die deutsche oder österreichische. Während in Frankreich die Bourgeoisie selbst sich des Feudalismus entledigte, war sie in Deutschland dazu weder willens noch in der Lage; sie entwickelte sich unter den Fittichen des autoritären Staates zur nationalen Bour5geoisie. Damals, zu Bismarcks Zeiten, wurde das Monstrum des „Nationalliberalismus“ geboren: Einsatz für die Expansion der nationalen Ökonomie ja, Kampf um die Durchsetzung der Bürgerrechte nein – das war der Deal mit der Obrigkeit, der für dieses politisch-ideologische Phänomen konstituiv war.

Nicht dass der französische Bourgeois stets den Zielen der menschlichen und gesellschaftlichen Emanzipation verbunden geblieben wäre. Im Gegenteil wirkte die Erinnerung an das, was Revolution in Frankreich anrichten können, auf einen Teil der zu politischen und wirtschaftlicher Macht gekommenen Großbürger so einschüchternd, dass sie zu veritablen Reaktionären wurde. Aber ihre ursprünglichen politischen Ansprüche – Aufklärung, Rationalität, Bürgerrechte – können seither von anderen Teilen der Gesellschaft gegen die Bourgeoisie selbst gewendet werden. Dass Rebellion gegen die Obrigkeit prinzipiell möglich und sogar ein „gutes Recht“ ist, bleibt vor diesem Hintergrund eine im kollektiven Gedächtnis Frankreichs fest verankerte Idee.

Es kommen andere historische Fakten hinzu, die erklären, warum Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in Frankreich anders funktionieren als in Deutschland – wo man heutzutage einer gGwerkschaft meist beitritt wie einer Versicherung „für den Fall, dass man´s mal braucht, wenn´s Probleme im Job gibt“, und wo die Gewerkschaft über Beginn und Ende des Streiks entscheidet sowie die Lohnabhängigen während der Streiktage auch (anstelle des Kapitalisten) bezahlt. Das wäre in Frankreich undenkbar: Streikgeld gibt es dort keines, den Ausstand bezahlen die abhängig Beschäftigten aus eigener Tasche in Gestalt der Lohnverluste, die sie hinnehmen müssen. Im Gegenzug aber werden sie nicht entmündigt, sondern entscheiden selbst über die Nutzung ihres Rechts auf Streik, und darüber, wann sie ihn wieder beenden. Bildet in Deutschland das Streikrecht ein „organisches Recht“, das nur einer Organisation und damit ihrem Apparat zusteht (Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz), ist es in Frankreich ein Individualrecht, das jedem Lohnabhängigen persönlich garantiert ist.

Dabei ist das positive Recht, wie so häufig, Ausfluss der Geschichte und der unterschiedlichen sozialen Kräfteverhältnisse, die sich in ihrem Verlauf herausgebildet haben. In Deutschland wurde „das System“ schon früh ins „große Ganze“ des Systems integriert, und Bismarck war so schlau, nicht nur ein generelles Betätigungsverbot für die Sozialdemokratie zu verhängen, sondern gleichzeitig der Parlamentsfraktion der SPD ihre freie Betätigung zu lassen. So erschien der „institutionelle Weg“ in der deutschen Arbeiterbewegung schon früh gangbar.

Anders in Frankreich: Auf das frühsozialistische Experiment der Pariser Kommune folgten zehn Jahre Repression und die zeitweise organisatorische Zerschlagung, jedenfalls rigorose Schwächung der Sozialdemokratie. Das hinderte Gewerkschaften und Arbeitervereine nicht daran, sich kurz darauf zu etablieren – aber eben nicht unter Führung einer Partei, die ihrerseits an den Staat angebunden blieb, sondern als „Gegenmacht“ zu Staat wie Kapital. Das nannte man im frühen 20. Jahrhundert „revolutionärer Syndikalismus“.

Später gab ihm die französische KP, die noch bis in die 1980er Jahre (über die CGT) einen Gutteil der Gewerkschaftsbewegung des Landes dominierte, zwar eine etatistische Form. Gegenüber dem bürgerlichen Staat blieb jedoch das Prinzip erhalten, dass konsequente Interessenvertretung nur durch Etablierung einer Gegenmacht im Betrieb und auf der Straße vor möglichen Verhandlungen zu erreichen sei – und weder durch „Mitsprache“ innerhalb der Institutionen noch durch ein ritualisiertes und „partnerschaftliches“ Gerangel mit den Kapitalvertretern, bei dem der Staat (von vornherein aus „Gemeinwohl“ verpflichteten) „Sozialpartner“ einen Teil seiner Regelungsmacht abtritt wie im Fall der „Tarifautonomie“ in Deutschland.

Letztere besteht im Kern darin, dass der Staat „unpopuläre“ soziale Einschnitte nicht selbst in Form eines politischen Akts durchsetzen muss: Die in die „Sozialpartnerschaft“ eingebunden Gewerkschaften besorgen deren Durchsetzung in ihrem eigenen „Lager“ schon selbst. Das ist in Frankreich anders, wo zuerst die Staatsmacht einschlägige Beschlüsse fasst und der Öffentlichkeit präsentiert. Danach muss sie die gegen mögliche gesellschaftliche Widerstande durchsetzen. Der Vorsatz, soziale Errungenschaften zu kassieren, erscheint so als politische Entscheidung, die sich als solche durchaus in Frage stellen lässt.

Gewerkschaften und Betriebsräte wurden in Deutschland zu Inhabern einer Stellvertretermacht aufgebaut, denen – im Rahmen der „Tarifautonomie“ – gewissen Vollmachten abgetreten worden sind. Dies war deshalb möglich und aus Sicht der Herrschenden sogar sinnvoll, weil diese „Stellevertretern“ ohnehin mit ihrem Gegenüber und der politischen Macht im Grundsatz einverstanden sind. In Frankreich blickte man eine Zeitlang neidisch auf dieses scheinbar so reibungslose Funktionieren: Zwischen 2001 und 2005 warben westlich des Rheins der Arbeitgeberverband MEDEF, die sozialliberale Richtungsgewerkschaft CFDTZ und führende bürgerliche Politiker für die Einführung von „Tarifautonomie“ und „Sozialpartnerschaft“. Man taufte das Programm schließlich auf den Namen refondation sociale, ungefähr: „Neubegründung der sozialen Beziehungen“.

Bislang aber hat sich der neubegründete Konsens nicht als sonderlich tragfähig erwiesen und so haben die regierenden Konservativ-Liberalen doch lieber versucht, die Einschränkung sozialer Rechte per politischer Entscheidung statt von Konsensgesprächen mit den bockigen Gewerkschaften durchzusetzen. Sogar das Parlament haben sie weitgehend ausgeschaltet: Die Einschnitte beim Kündigungsschutz wurden zum Teil im August 2005 per Notverordnung der Regierung, zum Teil im Februar/März 2006 sauf dem Gesetzeswege, aber ohne Sachdebatte im Parlament (da die Regierung das Sachproblem mit der Vertrauensfrage verknüpfte) beschlossen. Der politische Preis dafür ist hoch: Die von großen Teilen der Bevölkerung als gegen die eigenen Interessen gerichtetes Vorhaben begriffene Entscheidung rief die bekannten Massenproteste auf den Plan.

Quelle: Konkret 5/2006, von Bernhard Schmid

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