In Frankreich ist der Aufstand längst entbrannt
DGB-Chef Sommer und SPD-Präsidentschaftskandidatin Schwan warnen angesichts der Wirtschaftskrise vor "sozialen Unruhen". In Frankreich flackern diese schon seit Wochen auf. Bosse werden gekidnappt, Fabriken blockiert und verwüstet. Die Opposition spricht gar von einem "revolutionären Risiko".
Vielleicht war es ja die lange nächtliche Zugfahrt vom nördlich von Paris gelegenen Compiègne nach Hannover, die die Gemüter vorübergehend besänftigt hat. Jedenfalls haben sich die rund 1100 Arbeiter des Continental-Werkes Clairoix, dieam Donnerstag gemeinsam mit deutschen Kollegen in der niedersächsischen Landeshauptstadt die Hauptversammlung der Aktionäre des Reifenherstellers mit Protesten flankierten, auf der rechten Rheinseite ungleich gesitteter aufgeführt als daheim. Zu Gewalttätigkeiten kam es bei der Demonstration der „Contis” gegen die von ihrer Direktion beschlossenen Werksschließungen diesmal nicht.
48 Stunden zuvor hingegen hatten die französischen Reifenwerker noch regelrecht gewütet und gezeigt, wie „soziale Unruhen” aussehen könnten, vor denen in Deutschland DGB-Chef Michael Sommer und Gesine Schwan, die SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt jetzt gewarnt haben.
Wochenlang aufgestauter Frust
Als die Justiz am Dienstag die Klage der Gewerkschaften gegen die Schließung des Continental-Werkes Clairoix zurückwies, entlud sich ihr wochenlang aufgestauter Frust. Dutzende Contis verwüsteten erst die Büroräume der Unterpräfektur von Compiègne und randalierten später auf dem Werksgelände, wo sie die Pförtnerloge zertrümmern und Reifen in Brand stecken. Um weitere Ausschreitungen zu verhindern, hat die Geschäftsführung die Produktion mittlerweile gestoppt.
Verraten und verkauft fühlen sich die französischen Conti-Beschäftigten von den deutschen Eignern. Erst vor knapp zwei Jahren hatten sie sich die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich mit dem Versprechen einer sicheren Zukunft abringen lassen. Seit jedoch feststeht, dass Clairoix trotzdem dicht gemacht wird, nehmen die sich verschärfenden Protestaktionen kein Ende. „Wir sind keine Schafe mehr, jetzt werden wir zu Löwen, die zu allem bereit sind”, umriss der Gewerkschaftsvertreter Xavier Mathieu die Stimmungslage.
Regierung hat Angst vor der Radikalisierung
Der Kampf der Contis um ihre Arbeitsplätze, der in Frankreich zu einem Symbol der Krise geworden ist, hat längst auch die Regierung hoch geschreckt. Premier François Fillon verurteilte die Gewaltakte scharf und kündigte juristische Schritte gegen die „Täter” an. Dahinter steht die wachsende Sorge, mit der man in Paris die Radikalisierung in den Belegschaften taumelnder Unternehmen beobachtet. Ex-Premier Dominique de Villepin sprach sogar schon von einem „revolutionären Risiko”, dass am Horizont heraufziehe.
Wie sehr sich das soziale Klima in den letzten Monaten verschärft hat, zeigen vor allem die sich häufenden Fälle von „Bossnapping”. Bereits sieben Mal haben von Entlassung bedrohte Arbeitnehmer ihre Direktoren festgesetzt, um diese zu Neuverhandlungen über Abfindungen oder Sozialpläne zu zwingen.
Das Bossnapping hat sich häufig ausgezahlt
Dabei sind diese Geiselnahmen von Managern nur die Spitze des Eisberges. Kein Tag vergeht mehr ohne neue Meldungen über Fabrikblockaden, Demonstrationen gegen Stellenabbau, Eierwürfe auf Manager oder das symbolische Lynchen von als Führungskräften verkleideten Stoffpuppen.
Doch dass französische Arbeiter so gern zu rabiaten Methoden greifen, hat nicht allein mit der Krise zu tun. Die Schwäche der Gewerkschaften sowie sich häufig unversöhnlich gegenüber stehende Sozialpartner sorgen dafür, dass Konflikte rascher in eine harte Konfrontation münden als in Deutschland. Zumal sich die gezielte Dramatisierung nicht selten auszahlt. So führten fast alle Freiheitsberaubungen von Managern zu den von den „Bossnappern” geforderten Nachverhandlungen. Tief blicken lässt außerdem die Tatsache, dass weder Gewerkschafts- noch Oppositionsführer solche Übergriffe eindeutig verurteilen mögen und lieber ihr Verständnis für die „um ihre Existenz ringenden Arbeiter” äußern.
Quelle: NRZ vom 23.04.09