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Offener Brief an den Dortmunder Oberbürgermeister

Antwort des Sozialforum Dortmund auf das Interview des Stadtanzeigers mit dem Dortmunder Oberbürgermeister Dr. Langemeyer und dessen Versuch, Hartz IV als soziale Großtat der Bundesregierung hinzustellen



An den
Oberbürgermeister der Stadt Dortmund
Dr. Gerhard Langemeyer
Friedensplatz 1 / Rathaus
44122 Dortmund

Abs.:
Sozialforum Dortmund
c/o Wiebke Claussen, Unverhaustr. 5, 44147 Dortmund
Sturmi Siebers, Am Heeedbrink 42, 44263 Dortmund

Offener Brief des Sozialforum Dortmund an den Oberbürgermeister der Stadt Dortmund Dr. Gerhard Langemeyer

Dortmund, den 16.7.2004

Sehr geehrter Herr Dr. Langemeyer,

Sie hatten in einem Exclusiv-Interview, das im Stadtanzeiger vom 30.6.2004 zu lesen war, betont, dass es mit Hartz IV mehr Gerechtigkeit und deutliche Verbesserungen geben werde. Von einem Sozialabbau könne keine Rede sein. Es gelte, Ängsten vor dem Reformprojekt entgegenzuwirken. Auch bräuchten die sozialen Einrichtungen nicht um ihre Existenz zu fürchten. Ähnliche Äußerungen waren zuvor von Ihren Parteikollegen, den MdBs Ulla Burchardt und Marco Bülow, zur Umsetzung von Hartz IV in der WAZ Dortmund vom 17.6. zu lesen gewesen.

Das Sozialforum Dortmund ist der Auffassung, dass diese Darstellung falsch und an Schönfärberei kaum zu überbieten ist.

Sie sprechen in Ihrem Interview von rund 28.000 Menschen, die in Dortmund als Grundsicherung das Arbeitslosengeld II (ALG II) beziehen werden und denen es künftig besser gehen werde. Bei dieser Zahl handelt es sich nur um die erwerbsfähigen SozialhilfeempfängerInnen. Sie unterschlagen, dass eine etwa gleich große Zahl an Menschen (samt ihrer Familien) demnächst aufgrund von Hartz IV aus dem Bezug von Arbeitslosenhilfe bzw. Arbeitslosengeld herausfallen und damit überwiegend deutlich schlechter gestellt werden. Nicht mit einem Wort erwähnen Sie die Tatsache, dass ein Teil dieser Menschen aufgrund verschärfter Bedürftigkeitskriterien ganz aus den Sicherungssystemen herausfallen werden.

Ihre Darstellung fokussiert ausschließlich auf die Teilgruppe der Sozialhilfebeziehenden, die künftig Arbeitslosengeld II (ALG II) beziehen werden, und hebt die vermeintliche Besserstellung dieser Menschen im Rahmen des ALG II Bezugs hervor. Diese Argumentationslinie war bereits in der Darstellung von Bülow und Burchardt zu lesen. Wir fragen Sie: Ist diese Linie die neueste Verwirrungstaktik Ihrer Partei, um die Umsetzung des Arbeitslosengeld II und von Hartz IV zu verteidigen?

Tatsache ist: Nicht 28.000 Menschen, sondern rund 35.000 Bedarfsgemeinschaften, also weit mehr als zehn Prozent aller Dortmunder Haushalte, werden in Dortmund künftig von Arbeitslosengeld II- bzw. Sozialgeld-Zahlungen abhängig sein. Insbesondere Arbeitslosenhilfeempfänger werden mit Hartz IV in ihren Rechten und in ihrer materiellen Lebenssituation massiv schlechter gestellt. Die verschärfte Anrechnung von Partnereinkommen, Vermögenswerten und Geldleistungen wird bei den betroffenen Haushalten zu massiven Einkommenseinbußen führen. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet damit, dass bundesweit bis zu 800.000 Langzeitarbeitslose wegen Hartz IV jede Arbeitslosenunterstützung verlieren werden. Auf Dortmund bezogen heißt das, dass etwa 7.800 Bedarfsgemeinschaften (37% der Arbeitslosenhilfebeziehenden) jeden Anspruch verlieren. In Konsequenz von Hartz IV wird nicht zuletzt die Kinderarmut zunehmen. Der Deutsche Kinderschutzbund schätzt, dass durch die Umsetzung der Agenda 2010 voraussichtlich 500.000 Minderjährige in der BRD mehr unter die Armutsgrenze fallen werden. Mietervereine befürchten, dass mit Hartz IV Arbeitslose auf einen neuen Billigwohnungsmarkt abgedrängt werden.

Tatsache ist: Selbst Sozialhilfeempfänger werden mit dem neuen Arbeitslosengeld II nach dem Vierten Hartz-Gesetz schlechter dastehen als in der heutigen Sozialhilfe. Die größten Verlierer sind allein erziehende Elternteile und Kinder im Alter von 14 bis 18 Jahren.

Tatsache ist: Mit dem neuen Recht des Arbeitslosengeldes II wurde eine schwindelerregende Rutschbahn vom Arbeitsplatzverlust zur Fürsorgeabhängigkeit geschaffen.

Tatsache ist: Hartz IV wie auch die anderen Hartz-Gesetze schaffen nicht mehr Arbeit, Beschäftigung und soziale Sicherheit. Sie begünstigen vielmehr prekäre Arbeitsformen, schaffen mehr Zukunftsängste und üben unter den gegenwärtigen Bedingungen einen immensen Druck auf das Lohngefüge und die Arbeitssituation der noch bestehenden Beschäftigungsverhältnisse aus.

Tatsache ist: Im April 2004 waren in Dortmund 43.000 Menschen bei der Agentur für Arbeit offiziell arbeitslos (Quote 15,6%) gemeldet, davon 18.500 langzeitarbeitslos. Dem standen lediglich 2.400 offene Stellen gegenüber. Auf 18 Arbeitslose bzw. acht Langzeitarbeitslose kommt in Dortmund demnach eine gemeldete offene Stelle. Es ist absolut nicht erkennbar, was sich an diesem Missverhältnis mit Einführung des ALG II ändern sollte. Ernüchternd auch die Bilanz der Arbeitsplatzentwicklung in NRW, wo 154.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Laufe des Jahres 2003 verloren gegangen sind. In Dortmund haben in 2003 480 Betriebe Insolvenz angemeldet (20% mehr als im Vorjahr).

Hinzu kommt, dass die gegenwärtige Politik der Bundesanstalt für Arbeit durch einen Rückzug aus aktiver Arbeitsmarktpolitik sowie eine Infragestellung aller bewährten arbeitsmarktpolitischen Strukturen in den Städten und Regionen gekennzeichnet ist. Ein zweiter Arbeitsmarkt steht also kaum mehr zur Verfügung. Die Billigvariante der Beschäftigungsgelegenheiten mit Aufwandsentschädigung analog zur gemeinnützigen Arbeit verfolgt eine sehr fragwürdige andere Zielrichtung. Sie sprechen von verbesserten Vermittlungsstrukturen, Herr Langemeyer. Wir fragen Sie: In welche Arbeitsplätze soll besser vermittelt werden?

Völlig ungerührt fahren Sie in dem Interview mit dem Stadtanzeiger fort: „Mit Hartz IV wird man nicht 4,5 Mio Arbeitslose in Beschäftigung bekommen, aber das Reformprojekt ist nur eine von vielen Maßnahmen, mit denen das Problem angegangen werden soll“. Der Leser darf rätseln, was Sie mit „dem Problem“ wohl gemeint haben mögen. Doch wohl kaum den Mangel an Perspektiven, den diese sogenannte Arbeitsmarktreform den Erwerbslosen bietet, und die drohende Rutschbahn in die Fürsorgeabhängigkeit? Dann ließe die Äußerung Schlimmstes befürchten: Noch mehr gesetzliche Änderungen zu Lasten der Lohnabhängigen? Hartz V mit der Aushebelung des Kündigungsschutzes, Hartz VI vielleicht mit der befristeten Aussetzung aller Tarifverträge?

Wir vermuten eher, Sie hatten dabei nur die Auswirkungen von Hartz IV auf den kommunalen Haushalt im Auge. Denn in den vergangenen Monaten befassten Sie und die Fraktionen der SPD und der GRÜNEN sich nahezu ausschließlich mit den haushaltsmäßigen Auswirkungen von Hartz IV. Den Städten und Gemeinden ist es in Nachverhandlungen mit dem Bund gelungen, die befürchteten Mehrausgaben für die Kommunalhaushalte abzuwenden. Das ist sicherlich zu begrüßen. Das Ergebnis der Nachbesserungen als „hervorragendes Verhandlungsergebnis“ abzufeiern, wie Sie das die Tage getan haben, führt gleichwohl völlig in die Irre.

Daran schließt sich in Dortmund jetzt die forcierte Einrichtung der Jobcenter und einer ständigen Konferenz zur Umsetzung der Hartz- IV-Beschlüsse an. Als ein zentraler Baustein darin ist die Schaffung von preiswerten Arbeitsgelegenheiten in den Kommunen vorgesehen. Dahinter verbergen sich aber nicht Maßnahmen „zur sozialen und beruflichen Eingliederung“ von Arbeitslosen oder Maßnahmen im Sinne eines bisher bekannten zweiten Arbeitsmarktes, sondern nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Ausweitung der „Hilfen zur Arbeit“ mit einer Aufwandsentschädigung für 1,00-2,00 Euro pro geleisteter Stunde.

Eine aktive arbeitsmarktpolitische Initiative darf nicht auf das Abdrängen von Arbeitslosen in einen gedachten Billiglohnarbeitsmarkt, die Forcierung von Scheinselbständigkeit oder die Vermittlung in genannte wohlfeile Arbeitsgelegenheiten zielen. Sie muss vielmehr einer aktiven Politik der Vollbeschäftigung, einer gerechteren Verteilung der vorhandenen Arbeit, einer Qualifizierung der Arbeitskräfte und einem Aufbau von Vermittlungsbrücken verpflichtet sein.

Wir können nicht verstehen, wie man Hartz IV als sozialen Fortschritt bezeichnen kann. Eine solche Wertung zeugt von beginnendem oder auch fortgeschrittenen Realitätsverlust. Die Folgen auf die Lebenssituation der betroffenen Menschen, die schwindende Kaufkraft und die wachsende private Armut in unserer Stadt werden vollkommen ausgeblendet. Mit den sozialen Auswirkungen der Hartz IV-Gesetzgebung werden jedoch die Kommunen konfrontiert und Antworten hier zu finden sein.

Das Sozialforum Dortmund fordert Sie und die übrigen Ratsvertreter auf, sich für die Rücknahme von Hartz IV und der übrigen Hartz-Gesetze zum Abbau des Sozialstaats einzusetzen.

  • Das Sozialforum schließt sich den Forderungen des DGB, der IG Metall, von Ver.di und von Wohlfahrt- und Sozialverbänden an: Rücknahme der Hartz-Gesetze und dafür eine Neuauflage aktiver Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik!
  • Arbeitslose dürfen nicht zur Aufgabe ihrer angestammten Wohnung gezwungen werden!
  • Hände weg von Lebensversicherungen und anderen Altersvorsorgeanlagen der Betroffenen!
  • Rücknahme der Pläne, den Sektor der sog. Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsentschädigungsvariante im großen Stil auszubauen und damit eine Art kommunaler Arbeitsdienst für Langzeitarbeitslose zu installieren!
  • Aufstellung eines Sozialberichtes für Dortmund mit Darstellung der Armuts- und Reichtumsentwicklungen seit 1995 !


Mit freundlichem Gruß

Im Auftrage des Sozialforums Dortmund

Wiebke Claussen
Sturmi Siebers

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