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Zur Lage älterer Menschen

Berichterstatter: Theo Hengesbach (Kreuzviertel Verein)

Sozialabbau auf allen Ebenen – Sozialpolitik am Ende?

Am 6.12.1993 haben wir im Kreuzsaal ein „Dortmunder Altentreffen“ veranstaltet mit dem Thema „Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer: Krise des Sozialstaats oder Krise der Politik?“ Referent war Friedhelm Hengsbach SJ, der kürzlich auch in diesem Saal gesprochen hat. Schon vor 10 Jahren haben wir also die These, der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, hinterfragt und uns mit der Umverteilung „von unten nach oben“ auseinandergesetzt. Diese Umverteilung hat inzwischen noch schärfere Formen angenommen.

Dazu ein Zitat aus der NRW-Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 1.7.1995: „Mit ihrer Politik sozialer Demontage und der Begünstigung der wirtschaftlich Starken zu Lasten der Schwachen gefährdet die amtierende Bundesregierung den Fortbestand des Sozialstaats und die Zukunftsperspektiven der solidarischen Gesellschaft in Deutschland. Deshalb besteht eine Hauptaufgabe Nordrhein-westfälischer Landespolitik darin, darauf hinzuwirken, dass die Demontage des Sozialstaats durch die Bonner Koalition gestoppt und Perspektiven für eine solidarische Weiterentwicklung des Sozialstaats eröffnet werden.“ (zitiert nach Stellungnahme des SoVD NRW zum Landeshaushalt 2004/2005). Eine solche Absichtserklärung wäre auch heute noch zutreffend.

Der Kreuzviertel-Verein leistet Wohnberatung für ältere, behinderte und pflegebedürftige Menschen. Er hilft den Betroffenen, trotz Einschränkungen und veränderter Bedürfnisse möglichst selbständig zu leben. Das ist sozial- und auch finanzpolitisch notwendig – nicht nur, weil die meisten Menschen auch im Alter in ihrer eigenen Wohnung leben wollen, sondern weil sie das auch müssen. Die Zahl älterer Menschen ist so groß, dass es überhaupt nicht möglich ist, einen nennenswerten Anteil von ihnen in Heimen, im Betreuten Wohnen oder anderen Einrichtungen unterzubringen.

Der demographische Wandel

  • älter werden wir alle
  • sogar viel älter als unsere Vorfahren
  • die Frauen mehr als die Männer

Wenn wir alt sind

  • ist die Zahl der Alten so hoch wie nie
  • ist auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung so hoch wie nie
  • wird es mehr hier lebende ältere Migranten geben als jetzt

Viele ältere Menschen werden dann

  • allein leben
  • wenig Geld haben
  • im hohen Alter auf Hilfe und Pflege angewiesen sein
  • dabei aber nicht auf frühere Familienstrukturen zurückgreifen können

Das ist – in wenigen Worten – der demographische Wandel.

Aufgaben der Gesellschaft

Der demographische Wandel, seit den 60er Jahren ein Thema der Bevölkerungsprognosen, erfordert

  • die Selbständigkeit älterer Menschen möglichst lange zu erhalten
  • ihre Selbstbestimmung zu unterstützten
  • ihre Integration in familiäre, nachbarschaftliche und soziale Strukturen zu fördern
  • ihre Partizipation und Verantwortung für das Gemeinwesen auszubauen

Das heißt: es müssen - neben der Hilfe für Menschen in Notlagen - auch Strukturverbesserungen organisiert werden. Dabei spielen älter werdende Menschen auch eine aktive Rolle.

Die entscheidende politische Ebene ist die Landesebene, denn die Städte und Gemeinden sind durch die Bundespolitik in einer finanziell katastrophalen Situation und von den Mitteln des - auch schlecht gestellten! - Landes abhängiger als zuvor. Die Bundesregierung hat seniorenpolitisch auf die Situation in den Städte und Gemeinden eher indirekt Einfluss – natürlich durch die Gesetzgebung, z.Z. im negativen Sinn auch durch die Finanzpolitik, im positiven Sinne vielleicht durch Modellprojekte des Bundes.

Die Politik des Landes

Ein „Paradigmenwechsel“ in der Altenpolitik des Landes fand – so erklärte das zuständige Ministerium wiederholt – statt, als 1998 W. Clement Ministerpräsident wurde. Dieser war gekennzeichnet dadurch, dass

  • die soziale Altenpolitik weitgehend auf die Pflegepolitik reduziert und der Zuständigkeit des Sozialministerium überlassen wurde,
  • sich die Seniorenpolitik des Familienministeriums - sich von diesen Aufgaben entlastet fühlend – den sog. „weicheren“ Themen widmete, z.B. der Einrichtung von Internetcafés für Senioren, der Förderung von bürgerschaftlichem Engagement, der Förderung des Sports und ähnlichem.
  • Konkret bedeutete der „Paradigmenwechsel“ auch
  • dass unter dem Clementschen Primat der Wirtschaftspolitik ein Schwerpunkt Seniorenwirtschaft eingerichtet wurde, der den Wirtschaftsfaktor Alter fördern sollte,
  • dass ein Familienfest, ein Senioren-Forum und drei Senioren-Messen die sog. Jungen Alten – fit, aktiv, wohlhabend – anzusprechen versuchten,
  • dass das zuständige Ministerium im Sommer 2003 die Öffentlichkeit mit einer Untersuchung überrascht, der zufolge der durchschnittliche Seniorenhaushalt über 2.550 Euro im Monat verfügt, von denen 1.450 Euro frei verfügbar seien.

Dieser Paradigmenwechsel bedeutete aber auch

  • dass ein landesweites erfolgreiches und notwendiges Projekt zur Seniorenberatung eingestellt wurde, aber immerhin zwei Jahre danach auf einer Tagung einen ausführlichen „Nachruf“ erhielt,
  • dass der bis 1998 erfolgte Ausbau der Wohnberatung für ältere und pflegebedürftige Menschen ins Stocken geriet und sich die Zahl der Wohnberatungsstellen wegen ungesicherter Finanzierung rückläufig entwickelte,
  • dass vorliegende Berechnungen zum flächendeckenden Ausbau der Wohnberatung und Vorschläge zu dessen Finanzierung nicht umgesetzt wurden,
  • dass eine über fast 10 Jahre hinweg finanzierte Studie, die die Notwendigkeit dieses Ausbaus belegt, im Ministerium als Verschlusssache behandelt wird,
  • dass die landesgeförderte Wohnberatung seit drei Jahren mit einer Unterfinanzierung von bis zu 30 Prozent arbeitet, die Beratungskräfte Gehaltskürzungen hinnehmen müssen und die Beratungsstellen viel Zeit und Energie für Spendenwerbung und andere Methoden der Mittelaufstockung aufbringen müssen,
  • dass eine Analyse der Situation der älter werdenden und unter Abwanderung leidenden Städte nicht vorgenommen wird, obwohl sie bei seniorenpolitischen Projekten berücksichtigt werden müsste,
  • dass Hilfemaßnahmen und Strukturverbesserungen speziell für ältere Frauen, ältere Migranten oder ältere Menschen auf dem Lande nicht entwickelt wurden,
  • dass es an auf den Nahbereich bezogenen Konzepten zur flächendeckenden häuslichen Betreuung Alleinlebender („Gemeindeschwester“) fehlt.

Die Folgen

Die Effekte dieser Politik für die betroffene ältere Generation bestehen u.a. darin

  • dass der psychologische Druck auf die, die dem politischen Ideal nicht entsprechen – die also nicht fit, aktiv und wohlhabend sind und die Sozialkassen und den Staat in Ruhe lassen – wächst,
  • dass die Entsolidarisierung - politisch auf Landes- und Bundesebene unterstützt - zunimmt,
  • dass die Inanspruchnahme von Hilfe und das Einfordern angemessener Hilfestrukturen behindert wird,

Neue seniorenpolitische Leitlinien der Landesregierung

Andere Perspektiven versprechen die neuen „Leitlinien 2010“ (sic) der Landesregierung für die Seniorenpolitik in Nordrhein-Westfalen. Danach sollen tragfähige Hilfestrukturen aufgebaut und eine aktive Rolle älterer Menschen dabei gesichert werden.

Diese Verlautbarungen sind noch sehr allgemein. Dass sie konkret, umsetzbar und nachprüfbar werden, wird nur erreicht, wenn die Betroffenen – das sind wir alle – sich an dem politischen Prozess der Planung und Umsetzung beteiligen. Diese Auseinandersetzung ist immer auch eine Auseinandersetzung um die Verteilung vorhandener Mittel. Im Landeshaushalt 2004/2005 wurden jedoch die Mittel für die sog. Offene Altenarbeit erheblich gekürzt. Das Land muss als Reaktion auf den demografischen Wandel neue Strukturen aufzubauen und - auch beim Bund - um Mittel dafür kämpfen.

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Immer an der Basis
Oliver Volmerich Ruhr Nachrichten (Dortmund) Dienstag, 20. Januar 2004
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