Initiative für einen Politikwechsel

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Information über die Arbeitstagung der Initiative für einen Politikwechsel

Für ein soziales Bündnis

Unter dieser Losung stand die Arbeitstagung der Initiative für einen Politikwechsel am 1. Februar 2004, die der Vorbereitung auf die europäischen Aktionstage gegen Sozialabbau am 2./3. April diente.

Den Gleichklang der sozialpolitischen Agenda in den Ländern der Europäischen Union beschrieb der Vorsitzende der NGG, Franz-Josef Möllenberg. Den Fortschritt sieht er darin, dass es in den letzten Jahren gelungen ist, hörbaren Widerstand gegen den neoliberalen Umbau des europäischen Sozialmodells auf die Straßen der jeweiligen Orte der EU-Gipfeltreffen zu bringen – mit national sicherlich ganz unterschiedlichen Mobilisierungsgraden. Die nächste Runde steht jetzt an: Mobilisierung für soziale Alternativen. Möllenberg machte die Probleme auf zwei Ebenen fest: zum einen der Frage, ob – wie in Frankreich, Spanien, Italien oder Österreich – die Verteidigung des Sozialstaates gegen (rechts)konservative Regierungsmehrheiten organisiert werden muss oder gegen eine der wenigen verbliebenen sozialdemokratisch geführten Regierungen wie in Deutschland. Zum anderen sieht er ein konzeptionelles Problem der Bündelung der Proteste angesichts der Vielzahl der sozialpolitischen Themen, die auf der Agenda stehen.

Damit waren bereits Stichworte für die zweite Diskussionsrunde über politische Alternativen und Möglichkeiten der Gegenwehr gegeben. Für Bernd Riexinger, Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart, ist die politische Situation nicht mehr durch langfristig fortschreitenden Sozialabbau, sondern durch einen Systemumbau gekennzeichnet: die ökonomisch und politisch herrschenden Kräfte lassen sich in ein sozialpartnerschaftliches Konsensmodell nicht mehr einbinden, der rheinische Kapitalismus ist nicht mehr die Arena der sozialen Auseinandersetzungen. Seine Schlussfolgerung: Aktualisierung des politischen Mandats der Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Bündnisse mit sozialen Bewegungen. Dagegen steht eine "Überwinterungsstrategie", die in einer moderierenden Begleitung des Umbaus des Sozialsysteme noch Spielräume für sozialpartnerschaftliche Verständigungsprozesse auch auf parlamentarischer Ebene sieht.

Für Werner Rätz (Ko-Kreis Attac) muss für die Mobilisierung zum 3. April klar sein, dass die rot-grüne Bundesregierung nicht Ansprechpartner, sondern politischer Gegner eines breiten Bündnisses gegen Sozialabbau ist. Gleichzeitig kann die "Rollenverteilung" zwischen DGB und sozialen Bewegungen nicht derart sein, dass Attac die Aufgabe zufällt, gleichsam den "linken Rand" abzudecken. Überhaupt muss – wie mehrfach in der Diskussion eingefordert wurde – Grundlage sozialer Bündnisse ein Agieren "auf gleicher Augenhöhe" sein: ein 3. April, an dem der DGB gleichsam die Bläser benennt und die sozialen Bewegungen die Streicher aus dem Orchestergraben stellen, wäre zum Scheitern verurteilt. Rätz plädierte für bündnispolitische Erweiterung – Einbeziehung von MigrantInnen-, Umwelt-, Erwerbslosen- etc. Initiativen – sowie für weitere konzeptionelle Klärungen (u.a. Zugriff auf gesellschaftlichen Reichtum über Arbeit oder über soziale Rechte/Grundsicherung).

Realismus in der Einschätzung der sozialen Auseinandersetzungen forderte Horst Schmitthenner (IG Metall Verbindungsbüro soziale Bewegungen). Der Unmut gegen den rot-grünen Systemumbau artikuliere sich nicht per se öffentlich, das gesellschaftliche Klima der Republik sei ebenso durch soziale Ängste und Fatalismus geprägt. Auch in den Gewerkschaften sieht Schmitthenner noch keine gefestigte Protestposition; die Auseinandersetzungen, wie politischer Einfluss gewonnen werden kann – politische Autonomie und zivilgesellschaftliche Mobilisierung oder Versuch, Einfluss auf die Sozialdemokratie zurückzugewinnen –, ist längst nicht entschieden. Die Europäischen Aktionstage am 2./3. April müssen also in eine längerfristige Politik der Stärkung sozialer Bündnisse eingeordnet werden, um das derzeit noch recht fragile Fundament ("dünnes Eis") zu festigen.

Anschauungsmaterial, wie das geschehen könnte, lieferten Franz Segbers (Bündnis soziale Gerechtigkeit in Hessen) und Daniel Kreutz (Bündnis soziale Bewegung NRW). In beiden Fällen handelt es sich um eine Bündelung unterschiedlicher Initiativen (29 Gruppen in Hessen, 27 landesweite Trägerorganisationen und 19 örtliche Initiativen in NRW). Während in Hessen die Kahlschlagpolitik der Koch-Regierung der zündende Funke für die Reaktivierung des bereits 1997 gegründeten Bündniskreises war (in 2003 über 30 Mio. Streichungen im Sozialhaushalt, von denen 350.00. BürgerInnen betroffen sind) war in NRW die Agenda 2010 der Auslöser für die vor allem von ver.di initiierte "Castroper Erklärung" (die von der radikalen Linken bis zu Norbert Blüm unterstützt wird). Auch in diesen Ansätzen, eine landesweite Infrastruktur für soziale Proteste und Alternativen zu schaffen, gibt es politische Widersprüche: in Hessen, wo Caritas und Diakonie aktiv beteiligt sind, zählt dazu die Unterstützung der Agenda 2010 durch Kirchenführungen, in NRW der Versuch von Teilen des DGB, der IG BCE und auch der IGM, ein "anderes Bündnis" ins Leben zu rufen, das "Mitwirken beim Umbau des Sozialstaates" zum Ziel hat. Dennoch sollten die Beispiele landesweiter Bündnisse Schule machen. Die Initiative für einen Politikwechsel kann auf Anforderung die bisherigen Erfahrungen weiter geben.

In der abschließenden Diskussionsrunde beschrieb die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange die gewaltige Diskrepanz zwischen Ankündigungen und Realität in der Bildungspolitik, die für alle politischen Lager charakteristisch sei. Sie plädierte dafür, das Wahljahr 2004 für politische Aufklärung und Gegenöffentlichkeit zu nutzen ("Millionen zahlen Steuern, warum nicht auch Millionäre") und sich intensiver mit der Rolle der Medien in der Politik auseinanderzusetzen. Stanges Befürchtung, dass nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch in diesem Jahr die Einführung von Studiengebühren vorbereitet wird, leitete über zu Nele Hirsch (Freier Zusammenschluss der StudentInnenschaften), die u.a. die in den letzten Jahren wieder vertiefte soziale Selektion an den Universitäten beschrieb, den Zusammenhang von Elitediskurs und Bachelor-/Master-Abschlüssen und die zunehmende Verknüpfung von Bildungspolitik und Sozialabbau in den studentischen Protesten. Die Rolle des VdK brachte Karl Eugen Becker ein, und Ernst Bienert (Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde) ging auf die schrittweise Privatisierung der Gesetzlichen Rentenversicherung ein. Konsens war in der Runde wie in der Diskussion, dass Alternativen zum beschleunigten Systemwechsel in der Sozial- und Gesellschaftspolitik eine Politisierung der Verteilungsauseinandersetzungen (gegen Globalisierungs-, Spar-, Demografie- und andere Sachzwang-Argumente) erforderlich machen.

Die Initiative für einen Politikwechsel bot wieder einmal den Raum, wo Gewerkschafter und Aktive aus sozialen Bewegungen miteinander berieten, auf welche Inhalte einer anderen Politik sie sich einigen und über welche gemeinsamen Aktivitäten sie sich verständigen können. Die Europäischen Aktionstage gegen Sozialabbau gemeinsam erfolgreich zu gestalten, war der übereinstimmende Wille der Beteiligten im Frankfurter Gewerkschaftshaus. Für diesen europaweiten Aktionstag gelte es jetzt zu mobilisieren. Dabei sei es wichtig, dass die sozialen Initiativen bei ihren Aufrufen ebenso wie im DGB Aufruf die Offenheit betonten alle zur Teilnahme aufzurufen, um so zu einem gemeinsam getragenen Aktionstag zu kommen.

Der Aufruf "Für ein soziales Bündnis", der inzwischen eine breite Unterstützung fand, könnte bei der Erarbeitung gemeinsamer Ziele und Forderungen in den Initiativen eine wichtige Rolle spielen. Er könnte zugleich Mittel für die Mobilisierung sein und durch weitere gesammelte Unterschriften noch mehr Unterstützung erfahren. Der Aufruf schließt: "Anforderungen an eine solidarische Gesellschaft vorzuschlagen, reicht alleine nicht aus. Wir müssen stark werden gegen mächtige Interessen. Dazu sind breite Bündnisse, Aufklärung, Zukunftsdebatten, Aktionen und Bewegung erforderlich".

Frankfurt am Main, 4. Februar 2004

Bestellung des Aufrufs "Für ein soziales Bündnis": Anschrift, Telefon und Telefax (siehe oben) bzw. e-mail: Horst.Schmitthenner@igmetall.de oder Frieden-und-Zukunft@-online.de